279 - Der Fluch von Leeds
der Cathedral St. John. Von ihrem Turm verkündete der dumpfe Klang eines Hornes die volle Stunde. Ein Horn! Keine Glocken. Die hatten Wind und Wetter in den vergangenen fünfhundert Jahren gefressen. Ebenso wie das gesamte Kirchenschiff. Nur noch der Turm war übrig geblieben aus der Epoche der Alten. Gleich einem grauen Riesen erhob er sich aus der Mitte der Stadt.
Wie es wohl war in der Zeit vor dem Kometeneinschlag, der den Jahrhunderte andauernden Winter auslöste? Die Grafschaft Luimneach musste einst aus unzähligen Häusern und Bauten bestanden haben. Das wusste der Hafenmeister aus Büchern und Schriften der Alten. Über fünfzigtausend Menschen sollten hier gelebt haben. Heute waren es gerade mal zweihundert. Mit motorisierten Eisenwagen hatte man sich damals fortbewegt. Mit Schiffen, die aussahen wie schwimmende Paläste. Silberne Stahlvögel hatten stündlich den Himmel gekreuzt und sogar auf dem Mond sollten die Menschen spazieren gegangen sein.
Heute sah man höchstens mal eines der fliegenden Gefährte der Bunkerleute: EWATs, die sich in der Luft, zu Wasser und am Boden fortbewegen konnten. Doch in den letzten Monaten zeigten sich diese Expeditionsfahrzeuge nur selten. Überhaupt war es still geworden um den Regierungsbunker. Genauso wie in der gesamten Stadt.
Muss wohl mit dem verfluchten Herbst zusammenhängen , dachte Loxi und beschleunigte seinen Schritt. Vorbei an Hütten und Steinhäusern, die den Fluss säumten. Die Plätze davor wirkten wie ausgestorben. Keiner, der ihn begrüßte. Keiner, der ihn zu einem Schwätzchen bei Whisky und Salzgebäck einlud. Über was sollte man auch reden? Luimneach waren die Neuigkeiten ausgegangen wie den Bäumen das Herbstlaub. Seufzend verließ der Hafenmeister die Uferregion und nahm die Abkürzung Richtung Marktplatz. Er sehnte sich nach dem vergangenen Frühjahr zurück. Da jagte noch ein Ereignis das nächste.(nachzulesen in MADDRAX 264)
Erst trieben wilde Bestien in Cill Airne ihr Unwesen. Der junge Bunkerpilot O'Donel brachte damals den Kadaver eines der Biester in die Stadt. Hyeenas, so nannten die Bunkerleute die Raubtiere. Der Regierungsrat schickte daraufhin einen EWAT in die ferne Provinz von Luimneach, um die vierbeinige Plage zu jagen. Wochenlang ging das Gerücht, die menschenfressenden Raubtiere würden sich zu Tausenden der Stadt nähern.
Doch das Gerede verstummte schnell, nachdem der EWAT zurückgekehrt war: Die Besatzung hatte Fremde mitgebracht. Zwei Kinder und einen verletzten Mann aus Leeds. Nur wenige Tage nach deren Ankunft brodelte die Gerüchteküche aufs Neue. Diesmal war von Dämonen die Rede. Unheimliche Wesen, die Bewohner ganzer Städte in Stein verwandeln konnten.
Damals machten diese Nachrichten Loxi zu einem gefragten Mann. Täglich drängelten sich die Leute vor seiner Tür, um Neues zu erfahren. Denn eines der fremden Kinder hatte Kontakt zu ihm aufgenommen: Bill. Ein schielender, rothaariger Junge. Keine vierzehn Winter alt. Er suchte ein Schiff, um flussaufwärts in sein Heimatdorf zurückkehren zu können. Von Bill erfuhr der Hafenmeister alles aus erster Hand.
Von dem schwerverletzten Robin Fletscher, den die Hyeenas übel zugerichtet hatten: ein Bunkermajor aus Leeds, mit dem die Kinder in Cill Airne unterwegs gewesen waren. Ein waschechter Techno, der die Barbarei der Lords überlebt hatte.
Loxi erfuhr auch alles über das andere Kind, die kleine Ann Drax, die ihre Angehörigen an der Südküste verloren hatte. Sie kam aus dem Dorf der Versteinerten. Corkaich. Sämtliche Bewohner hatte es dort erwischt. Noch gab es keine Erklärung dafür, wie die Menschen zu leblosem Stein geworden waren. Doch an Dämonen oder Zauberei glaubte Loxi nicht. Der rothaarige Junge auch nicht.
Was die kleine Ann glaubte, wusste niemand so genau. Sie war stumm wie ein Fisch. Wahrscheinlich der Schock. Obwohl Bill meinte, sie habe erst nach der Ankunft im Bunker aufgehört zu sprechen. Manchmal brachte er die Kleine mit, wenn er Loxi besuchen kam: ein blondgelocktes Mädchen mit Stupsnase und ernsten blauen Augen. Sie mochte den Bunker nicht. Besonders diesen Major Fletscher konnte sie nicht leiden. Auf die Frage »Warum?« schrieb sie einmal auf einen Zettel: Fletscher ist ein Dreckskerl. Mehr war nicht aus ihr herauszubekommen. Jetzt sowieso nicht mehr: Vor einigen Wochen hatte der rothaarige Bill Luimneach verlassen. Ein trauriger Abschied für die kleine Ann. Seither hatte das Mädchen sich nicht mehr im Hafen blicken
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