291 - Die heilige Stadt
können. Dieser Erkenntnis muss ich mich stellen, und wenn sie noch so bitter ist…
Die Großen Räte Khoms saßen auf sieben prunkvollen Sesseln, die in ihrer Anordnung einen nach unten offenen Halbkreis bildeten. Das Wandbild hinter ihnen zeigte in bunten Farben den Kreislauf des Lebens im leidhaften Samsara; ein dämonisches Wesen hielt einen in zahlreiche kuchenstückförmige Segmente unterteilten Kreis, die bedrückende Szenen der menschlichen Existenz darstellten.
Chan betrachtete das Rad nur kurz. Jetzt könnt ihr auch mein Abbild mit hinein malen , dachte er in einem Anflug von Galgenhumor. Sein Blick wanderte weiter.
Ganz oben, in der Mitte des Halbkreises, saß nun Tenpa, der König der Welt , der Erste Mann Agarthas. Chan bemerkte die Sorgenfalten auf der Stirn des noch jugendlich wirkenden Hundertjährigen mit den kurzgeschnittenen braunen Haaren, und das tat ihm womöglich noch mehr weh als seine Selbsterkenntnis der Unreife.
Tenpa, der keine asiatischen Gesichtszüge, sondern eher die eines Südeuropäers besaß, eröffnete die Gerichtsverhandlung. »Ihr seid Khoms heranwachsende Kinder , die Eliteklasse, aus der die kommenden Großen Räte hervorgehen, auch der König der Welt . Viele Jahre lang werdet ihr für die Aufgaben und die ungeheure Verantwortung ausgebildet, die ihr als einstige Führungspersönlichkeiten Agarthas zu tragen habt. Dafür müsst ihr in allererster Linie Friedfertigkeit, Umsicht und großes Wissen, aber auch Gelassenheit beweisen. Aggressivität und Brutalität gehören nicht zu den Eigenschaften, die die Großen Räte auszeichnen. Deswegen ist der gestrige Vorgang ein sehr ernster, über den wir zu Gericht sitzen müssen.«
Er stockte und musterte dann Khoms heranwachsende Kinder streng. Auf Chan und Lobsang blieben seine Augen ein wenig länger haften, vor allem auf Chan.
Lobsang Champa bekam zuerst das Wort. Da er nicht deutlich sprechen konnte, verlas Loden Champa, der Vizekönig, die anklagenden Sätze seines Sohnes. Chan blieb ruhig, obwohl es sich großteils um Lügen handelte, die Lobsang als armes, bedauernswertes Opfer darstellten und Chan als beständigen Aggressor. Er wusste genau, dass keiner der anderen Schüler Partei für ihn ergreifen würde, wohl auch nicht die Lehrer. Zu groß war deren Angst vor dem Vizekönig. Mit jedem weiteren Wort wurde die Miene König Tenpas besorgter.
Dann war die Reihe an Chan. Bevor er etwas sagen konnte, bat Khyentse um das Wort. Nicht nur ihr Vater Dampa, ein alter Mann, der links unten saß, sah sie erstaunt an. Der König ließ sie tatsächlich reden. Zu Chans grenzenlosem Erstaunen stellte sie sich mit heller, klarer Stimme an seine Seite und erzählte furchtlos, was sich während des letzten Jahres wirklich zugetragen hatte. Die dumpfen Laute, die unter Lobsangs Kopfbinde hervorkamen, waren wahrscheinlich Schreie der Wut.
Nachdem sie mit den aktuellen Ereignissen geendet hatte, blieben alle Blicke auf ihr haften. Loden Champa geiferte und beschuldigte sie der Lüge, während Khyentses Vater dagegen hielt, dass seine Tochter im Geiste der Wahrheit erzogen sei. Chan sah nach außen hin emotionslos zu. Er bekam fünf der Großen Räte heute zum ersten Mal zu Gesicht. Vor allem Khyentses Vater musterte er immer wieder. Dampa war trotz seiner vollen Stimme viel älter, als er gedacht hatte. Und er schien schwer krank zu sein. Medizin war eines der Lieblingsfächer Chans und er wusste gewisse Zeichen zu deuten.
Hm, das ist aber seltsam. Was hat Lhamo gestern noch gesagt?
Der Vizekönig warf Chan weiter vor, einen für Agarthas Führung nicht geeigneten Charakter zu haben, und verlangte dessen Rauswurf aus der Eliteklasse. Drei weitere Räte schlossen sich an. Die Diskussion wogte hin und her, die Argumente flogen wie Giftpfeile durch den Ratssaal, bis schließlich König Tenpa dem Treiben mit einer herrischen Geste Einhalt gebot.
Da Chan unerträglich provoziert worden sei und deshalb nicht die alleinige Schuld trage, bekomme er eine zweite Chance, entschied er. Die bekomme auch Lobsang, denn auch er müsste wegen seines Verhaltens die Eliteklasse normalerweise verlassen. Das war ein geschickter Schachzug, der dem Vizekönig und den anderen Eiferern den Wind aus den Segeln nahm und Loden Champa dem König gegenüber sogar noch zu Dank verpflichtete. Sowohl Chan als auch Lobsang mussten sich nun öffentliche Rügen anhören, die überdies in ganz Agartha publik gemacht würden, dann war die Klasse entlassen.
Noch nie in
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