291 - Die heilige Stadt
in der Lage gewesen war, sich mit den Hirten in deren Muttersprache zu unterhalten; er hatte heimlich sogar fast darauf gehofft.
Danach war Xij allerdings in kalten Schweiß gebadet und völlig durch den Wind gewesen. Durchlebte sie jetzt gerade wieder einen ihrer Tagträume, an die sie sich später nicht mehr erinnern konnte - oder dies zumindest behauptete?
Zwei Stunden später öffnete sich erneut ein weites Tal vor dem Luftschiff. Den Reisenden verschlug es jetzt wirklich den Atem.
»Das ist Lhasa«, flüsterte Matt andächtig. »Kein Zweifel. Das Gebäude dort vorne ist der Potala-Palast, den habe ich früher mal auf Bildern gesehen.«
Auch Alastar konnte und wollte seine Erregung nicht verbergen. Mit seinem verbliebenen Auge starrte er auf die ausgedehnte Stadt aus großteils quaderförmigen Flachdachgebäuden aller Größen, die sich, in Straßenzügen angeordnet, aus dem Schneeteppich erhoben. Am Rand der Stadt ragte ein steiler, etwa hundertdreißig Meter hoher Berg auf, dem der Palast wie eine Mütze übergestülpt war.
In den Gebieten um den Palast herrschte reges Treiben, andere Stadtgebiete, vor allem die Außenbezirke, schienen dagegen gespenstisch leer zu sein. Damit unterschied sich Lhasa nicht von allen anderen Großstädten dieser Epoche.
Auch Xij war plötzlich auf den Beinen. Als sie die Stadt sah, zitterte sie so stark, dass Aruula sie mütterlich an sich drückte. Der Schweißgeruch, den sie absonderte, war so stark, dass er die ganze Gondel ausfüllte.
Angstschweiß , dachte Matt. Was in Dreiteufelsnamen ist mit dem Mädchen los?
Rulfan setzte zur Landung an. Xij murmelte unablässig etwas vor sich hin. Matt glaubte den Namen Niccolo Polo zu verstehen. Es lief ihm eiskalt über den Rücken. Xijs Murmeln wurde lauter und entlud sich schließlich in einem schrillen Schrei voller Schmerz und Angst. Er kam so plötzlich, dass alle zusammenzuckten.
Xij stieß Aruula von sich, rannte durch die Gondel, sah sich dabei um, als würde sie verfolgt, und machte Anstalten, die Außentür zu öffnen. Mit drei Sätzen war Alastar bei ihr und fasste ihr mit der Rechten ins Genick. Mit einem Seufzer sank Xij zusammen. Er nahm sie hoch, als sei sie eine Puppe.
»Keine Sorge, sie ist in einigen Minuten wieder wach«, sagte er zu Aruula, die sich ihm feindselig in den Weg stellte.
Auf einer weiten Schneefläche knapp außerhalb Lhasas landete Rulfan die MYRIAL II problemlos. Die Reisenden stiegen aus; inklusive Xij, die tatsächlich schon wieder bei sich und plötzlich die Ruhe selbst war.
Von der Stadt her näherte sich eine Wand aus bunt gekleideten Menschen. Es mussten mehrere hundert sein. Langsam kamen sie näher. Einige von ihnen trugen bunte Gebetsmühlen, die sie unablässig drehten und dabei ständig den gleichen Satz wiederholten. Die Mischung aus lautem Knarren und melodiös-monotonen Sprechgesängen war ziemlich gewöhnungsbedürftig für westliche Ohren.
Aruula verzog denn auch das Gesicht. »Nur wenn Sorban am Lagerfeuer gesungen hat, klang es noch schlimmer«, sagte sie. »Was machen die da? Wollen die uns vertreiben?«
»Die Tibeter nennen sie Mani-Mühlen«, antwortete Xij wie aus der Pistole geschossen. »Die Mühlen enthalten Mantras, die durch das Drehen aktiviert werden und allen fühlenden Wesen Wohlsein und Glück bringen sollen. Außerdem soll auf diese Weise schlechtes Karma aufgelöst werden, wenn eines in der Nähe ist. Im Zweifelsfall unseres.«
»Hm.« Aruula zog die Augenbrauen zusammen. »Was sind Mantras? Und was ist Karma?«
»Mantras sind eine Art Zaubersprüche, die ständig wiederholt werden, damit sie wirken«, sagte Matt und bog die Antwort damit gekonnt auf Aruulas Vorstellungswelt zurecht. »Ich glaube Om mani padme hum zu verstehen. Das war schon zu meiner Zeit ein extrem wirksamer Zauberspruch, den die ganze Welt gekannt hat. Und Karma? Ich würde sagen, das ist die Energie unserer Gedanken und Taten. Die kann gut oder auch schlecht sein. War das halbwegs richtig, Xij?«
»Ganz grob könnte man das so sagen. Die Menschen hier glauben, dass sie das Karma mit in den Tod nehmen und bei ihrer Wiedergeburt genauso wieder mitbringen, damit sie daran arbeiten können.«
Die Menschenmenge stoppte plötzlich, als gäbe es eine unsichtbare Grenze für sie, und verharrte in einigem Abstand zu den Reisenden. Xij ging den Einheimischen ein paar Schritte entgegen, rief etwas und winkte ihnen gleichzeitig zu.
Tatsächlich kamen sie nun näher. Die gedrungen wirkenden
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