291 - Die heilige Stadt
seinem jungen Leben hatte sich Chan so erleichtert gefühlt. Er begann wieder an die Gerechtigkeit und die Weisheit des Königs der Welt zu glauben.
Am nächsten Tag stand das Fach Energiewirtschaft auf dem Stundenplan. Dazu machten Khoms heranwachsende Kinder eine Exkursion mit der Schnellbahn zu einem der riesigen Kraftwerke, die das Reich Agartha mit unglaublich hohen Energiemengen versorgen konnte.
Chan saß allein im letzten Wagen und vertiefte sich in einen Stapel Papiere. Die Bahn fuhr gerade auf einem schmalen Grat entlang des kilometertiefen und etwa tausend Kilometer langen Felsspalts, in dem der unerschöpfliche Energielieferant Lava brodelte, als Khyentse durch die Tür trat.
»Hallo Chan«, sagte sie mit unsicherer Stimme und lächelte ihr einfältiges Lächeln, das er so sehr an ihr hasste. »Darf ich mich zu dir setzen?«
Das kurze Lächeln, mit dem er im Gegenzug die unscheinbare, etwas dickliche junge Frau mit den allzeit roten Pausbäckchen und der hochgetürmten Altfrauenfrisur bedachte, fiel maskenhaft starr aus. »Natürlich, setz dich.«
Sie setzte sich linkisch und lächelte weiter.
Was willst du? Soll ich mich jetzt bei dir bedanken?
»Bereitest du dich auf die Energiewirtschaft vor?«, fragte sie.
»Nein. Ich stöbere in den Ratslisten, das ist alles.«
»Ach so. Ja. Hm, weißt du, ich wollte dich fragen, ich meine, ich habe für heute Abend einen Tisch im Abendröte bestellt. Und da wollte ich dich fragen, ob du mich vielleicht dorthin begleitest? Ich würde mich sehr freuen.«
Wut stieg in Chan auf. Er bezähmte sie jedoch sofort.
Du glaubst wohl, weil du Partei für mich ergriffen hast, kann ich jetzt nicht mehr anders? Du glaubst, du kriegst mich auf diese Weise rum, du hässliches Stück Fleisch? Da hast du dich aber geschnitten. Wie deutlich muss ich dir denn noch machen, dass du nicht mein Typ bist?
»Im Abendröte ?« Chan lächelte. »Das ist lieb von dir und ich würde das beste Restaurant von Agartha-Stadt ja wirklich mal gerne kennen lernen. Aber es geht nicht. Um deinetwillen nicht, Khyentse.«
Er sah die Enttäuschung förmlich über sie hereinbrechen. »Wie… wie meinst du das?«
Kann ich mir vorstellen, dass du blauäugig in dein Schicksal läufst, du Yakkuh…
»Es ist ein Restaurant, in dem ausschließlich Edle verkehren, habe ich mir sagen lassen. Ich aber bin ein Darunterstehender. Sie würden mich sicher dulden, aber es wäre für uns beide ein Spießrutenlauf, Khyentse, vor allem für dich. Das will ich nicht. Edle, die sich mit Darunterstehenden einlassen, werden verachtet, das weißt du doch.«
»Es macht mir nichts aus, was die anderen sagen. Überhaupt nichts. Außerdem hat König Tenpa persönlich bestimmt, dass du zu Khoms heranwachsenden Kindern gehören sollst, weil du so intelligent bist. Das reicht mir als Legitimation völlig aus. Die Leute wissen das doch auch. Und wenn es anders wäre, wäre es mir auch egal. Für dich würde ich alles Mögliche aushalten.«
»Tut mir leid. Es geht nicht.«
Khyentse schluckte schwer, als sie mit hochrotem Kopf und feuchten Augen aufstand, sich umdrehte und ohne einen Blick zurück den Wagen verließ.
Chan vertiefte sich wieder in die Ratslisten. Er war fast ungehalten, dass er deren Studium unterbrechen musste, setzte es aber gleich nach der Exkursion wieder fort.
»Das ist es also«, flüsterte er erschöpft, als die Nacht schon fast wieder dem Tag wich. »Es besteht kein Zweifel, mir ist jetzt alles klar.«
Zwei Tage später passte er Khyentse nach dem Karma-Unterricht ab. »Ich muss mit dir reden«, sagte er und strahlte sie an. »Nein, warte, geh nicht.« Er packte sie am Oberarm. »Ich möchte mich bei dir entschuldigen, aber ich musste deine Einladung ins Abendröte neulich ablehnen. Und weißt du, warum? Weil ich selbst schon einen Tisch dort für uns bestellt habe. Für heute Abend. Weil ich mich für deine Hilfe bedanken will und weil… weil ich dich mag.«
»Wirklich?« Khyentse strahlte wie ein Honigkuchenpferd.
Es wurde eine unvergessliche Nacht für die junge Frau. Sie durfte all ihr einfältiges Geplapper an Chan loswerden, der ihr fasziniert zuhörte und sich dabei als großen Schauspieler einstufte. Danach bat er sie in seine Wohnung, wo er ihr unter heißen Küssen seine Liebe gestand, die er, obwohl er ein Darunterstehender sei, nun nicht mehr länger vor ihr verbergen könne.
Sie liebten sich so ungelenk, wie Teenager es beim ersten Mal eben tun, aber Khyentse sah ihren ersten Sex
Weitere Kostenlose Bücher