296 - Totes Land
Tagebuch dazu dienen, darüber hinaus auch noch die menschliche Seite darzustellen.
Was hat die Regierungen der Staaten der ehemaligen Sowjetunion und die EU dazu gebracht, die enormen Mittel für ein so gigantisches Unterfangen zur Verfügung zu stellen? Die Antwort ist einfach: Es war die Angst!
Jahrelang ist es der Welt gelungen, den Reaktorunfall aus dem Jahr 1986 zu verdrängen. Die gefährlichen Teile des Kraftwerks lagen hinter dicken Mauern aus Stahl und Beton. Auch wenn diese in der Realität schon längst bröckelten, erwiesen sich die in den Hirnen der Menschen als wesentlich stabiler.
Die Radioaktivität lag hinter den Wällen verborgen. Man sah sie nicht, man schmeckte sie nicht, also existierte sie nicht. Jeder wusste, wie kurzsichtig dieses Denken war, dennoch gab man sich ihm hin. Weil die Alternative, die Errichtung einer neuen, besseren Abschirmung, zu teuer war.
Doch dann kam das Jahr 2010 und mit ihm schreckliche Waldbrände! Das, was man jahrelang verdrängt hatte, war plötzlich wieder da. Was, wenn die Brände verstrahltes Gebiet erfassen würden? Was, wenn sich die giftige Asche über Europa ausbreitete? Glücklicherweise ist das nicht geschehen. Vielleicht hat es die Öffentlichkeit auch nur nicht erfahren. Immerhin reichte es aus, die Leute aufzuschrecken.
Womöglich wäre der Schreck ohne Nachwirkung abgeklungen, hätte im letzten März nicht dieses fürchterliche Erdbeben Japan und die gesamte Welt erschüttert. Was für eine Tragödie. Ein Jahrhundertbeben, ein Tsunami - und der Ausfall der Kühlsysteme im Atomkraftwerk Fukushima. Manchmal…«
Sacharov stockte, rang um Worte.
»Manchmal könnte man glauben, die Erde steuert tatsächlich auf ihren Untergang im nächsten Jahr zu, wie manche Panikmacher wegen des Maya-Kalenders behaupten.
Die schlimmen Ereignisse in der Folge des Erdbebens bewirkten ein weltweites Umdenken. Selbst die ständig wiederkehrenden Beteuerungen der Politiker, dass es derzeit noch keine Alternative zum Atomstrom gebe, verstummten allmählich. Die Parallelen zu dem, was sich ein Vierteljahrhundert zuvor ereignet hatte, waren einfach zu deutlich. Und so rief die Berichterstattung den Menschen ein zweites Mal innerhalb kürzester Zeit das eigentliche Problem des Kraftwerks von Tschernobyl ins Bewusstsein: das Alter des Sarkophags, der die Welt vor dem verseuchten Schutt bewahren sollte. Sein maroder Zustand.
Sarkophag! Das ist tatsächlich der offizielle Name für die alte Umhüllung. Und auch die neue wird so heißen. Ich finde ihn unglücklich gewählt. Stets sehe ich dabei Vampire vor mir, die im Inneren auf den Einbruch der Nacht warten, um Tod und Verderben über die Welt zu bringen. Wenn man andererseits bedenkt, was hinter den spröden Mauern lauert, ist dieser Begriff vielleicht sogar ganz passend.
Die Arbeiten begannen bereits vor einigen Monaten im Frühjahr, allerdings noch nicht an der Schutzhülle. Weil die Strahlung beim Kraftwerk für einen Stützpunkt zu hoch ist, wählte man Prypjat aus. Man beließ die alten Strukturen, stampfte aber zusätzlich strahlengeschützte Bunker aus dem - oder besser: in den - Boden. Unsere neue Heimat. Darf ich ehrlich sein? Die vier Kilometer Distanz zum Reaktor beruhigen mich nicht! Kein bisschen!«
Das kann ich mir vorstellen , dachte Matt, als sich der Monitor für einen Augenblick verdunkelte. Geht mir im Moment ganz genauso! Wir müssen sehen, dass wir Aruula und Xij finden, und von hier verschwinden. Und zwar pronto, bevor wir unrettbar verstrahlt sind.
Erneut erschien Sacharov auf dem Bildschirm. Zwischen den Aufnahmen lagen offenkundig mehrere Tage. Die dunklen Augenringe hingen ihm fast bis zu den Knien. Sein Gesicht zeigte Schatten der Erschöpfung und der mangelnden Benutzung des Rasierapparats. Instinktiv strich sich Matt über das glatte Kinn.
»Die Arbeiten am neuen Sarkophag haben begonnen.« Die Stimme aus der Vergangenheit klang müde. »Für mich hieß das: vier Tage nacheinander Dienst, nur unterbrochen von jeweils läppischen drei Stunden Schlaf. Und das, obwohl ich mit den Bautätigkeiten nichts zu tun habe. So viel zu gründlicher Planung! Von den Maschinenführern, Ingenieuren, Technikern, Metzgern, Köchen, Elektrikern, Bibliothekaren und Frisören tummeln sich so viele im Bunker Prypjat, dass alle Aufgaben auf mindestens vier Schichten verteilt werden können. Es gibt nur zwei Ausnahmen, bei denen man das nicht als notwendig erachtete: den Zahnarzt und mich, den
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