296 - Totes Land
professionelle Ruhe eines Psychologen auszustrahlen.
»Der Sarkophag ist fertig. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber wir haben es geschafft. Ja, ich sage mit Bedacht wir . Denn auch wenn ich mit der eigentlichen Errichtung der Hülle nicht unmittelbar zu tun hatte, war ich rund um die Uhr im Einsatz. Ich habe versucht, den Druck von den Menschen zu nehmen, was angesichts der bevorstehenden Katastrophe kein leichtes Unterfangen war.
Heute ist der siebte Februar 2012. Übermorgen habe ich Geburtstag. Ich fürchte, es gibt keinen Grund zu feiern. Eigentlich haben wir erwartet, man würde uns evakuieren, doch diese Hoffnung hat sich zerschlagen. Nicht genug Bunker , sagen sie. Ein geordneter Rückzug kann nicht ausreichend schnell organisiert werden. Was für ein Geschwätz. Die Bonzen versuchen ihre eigenen Ärsche zu retten. Wen kümmern da die Ärsche in Prypjat.«
Matt fiel auf, dass Sacharov in seiner Übermüdung beinahe schon lallte. So klang der Ortsname nach Prypt .
»Wir sollen in unseren Bunkern bleiben. Also gehorchen wir, verriegeln vorsichtshalber die Türen und versuchen uns auf etwas vorzubereiten, auf das man sich nicht vorbereiten kann. Ich war leider nie ein religiöser Mann. Jetzt wünschte ich, ich fände Trost im Gebet.«
Ein neuerlicher Schnitt, diesmal mit wenig Schneegestöber verbunden.
»Die gute Nachricht lautet: Wir leben noch! Das ist aber auch das einzig Positive, was die meisten der Situation abgewinnen können. Der Einschlag liegt über eine Woche zurück. Wir haben die Erschütterungen bis hierher gespürt. Der Kontakt zur Außenwelt ist abgebrochen. Wir erreichen weder Moskau noch eine andere Stadt. Fernseh- und Radiogeräte sind nur noch nutzlose Kästen. Die Kameras zeigen, dass draußen permanente Nacht herrscht. Der Komet hat so viel Staub in die Atmosphäre gewirbelt, dass die Sonne nicht mehr durchkommt. Eine neue Eiszeit scheint unausweichlich.
All das ist fürchterlich, gewiss. Worunter wir aber am meisten leiden, ist, dass laut der Geigerzähler die Radioaktivität außerhalb des Bunkers außerordentlich hoch sein muss. War alles umsonst? Hat der neue Sarkophag nicht gehalten?
Wir wissen es nicht. Und wir wollen es auch nicht herausfinden. Wir haben uns entschieden, in unserem Versteck zu bleiben und auf Rettung zu warten. Inzwischen werden aber immer mehr Stimmen laut, die bezweifeln, dass jemand kommen wird, um uns zu holen. Ich fürchte, sie haben recht.«
Sacharov stieß ein tiefes Seufzen aus, dann wurde der Bildschirm dunkel. Als sein Gesicht wieder erschien, merkte man ihm die Anspannung deutlich an. Matt konnte den Verfall des Mannes, der sich über Wochen oder gar Monate hingezogen haben musste, wie in Zeitraffer miterleben. Das Erschreckendste war jedoch, dass er den Großteil seiner Haare verloren hatte und seine Haut von Blutergüssen übersät war.
»Zweiunddreißig Tage nach dem Einschlag. Draußen herrscht noch immer Nacht. Es ist kalt. Nach wie vor kein Kontakt zur Außenwelt. Niemand rechnet mehr mit dem Eintreffen eines Rettungskommandos. Ich… Wir…«
Er fuhr sich durch das spärliche Haar. Sein Blick glitt in die Ferne. Auf Matt wirkte er unkonzentriert und geistesabwesend. Nur die Folgen der Anspannung? Matt glaubte, dass mehr dahintersteckte, und bekam es kurz darauf bestätigt.
»Was wollte ich sagen? Ah ja, ein paar von uns haben die Nerven verloren. Unter Führung von Andrej Djatlow haben sie den Bunker verlassen. Bis vor fünf Wochen war er noch Hilfselektriker. Ein dickköpfiger, besserwisserischer Kerl. Seit das Chaos über uns hereingebrochen ist, schwingt er große Reden, und im Laufe der Zeit fand er immer mehr Anhänger. Vor fünf Tagen haben sie sich nach Kiew aufgemacht. Was sie dort zu finden hoffen, weiß ich nicht. Sie haben angekündigt, mit einem Rettungstrupp zurückzukehren. Ich glaube, wir werden sie nie wieder sehen. Es ist mir auch egal; wir haben andere Probleme. Die Bunker sind doch nicht so strahlensicher wie behauptet. Seit dem Einschlag ist die Strahlung sprunghaft angestiegen. Inzwischen zeigen… leiden… äh…«
Er brach ab, wusste offenbar nicht mehr, was er sagen wollte.
»Ich bekomme einfach die Bilder nicht mehr aus dem Kopf«, fuhr er dann zusammenhanglos fort. »Die von damals, von 1986. Die Sperrzone um den Reaktor, die man nicht betreten durfte. Und die man vor allem nicht verlassen durfte, ohne dekontaminiert worden zu sein. Bewaffnete auf den Zufahrtsstraßen bewachten das Kraftwerk wie
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