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296 - Totes Land

296 - Totes Land

Titel: 296 - Totes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Fröhlich
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Psychotherapeuten.
    Bei Juri, dem Dentisten, funktioniert das sogar. Er hatte in den drei Wochen seit unserer Ankunft gerade mal fünf oder sechs Patienten auf seinem Stuhl, Mir jedoch rennen die Menschen die Türe ein. Und ist das ein Wunder in dieser Umgebung? Haben die Planer etwa gedacht, dass alle Beschäftigten funktionieren wie gedrillte Soldaten, obwohl weit über neunzig Prozent der fünftausend Neubürger Prypjats Zivilisten sind?
    Um die Arbeiten zügig voranzubringen, setzt man auf festes Personal, das sein Leben bis zum Ende des Auftrags vor Ort verbringt. Wie man es von Bohrinseln her kennt. Letztlich ist Prypjat tatsächlich nichts anderes als eine Insel im Meer der Sperrzone. Ich fürchte aber, die fetten Bosse auf ihren gemütlichen Schreibtischstühlen irgendwo in Moskau, London oder Brüssel ahnen gar nicht, was es bedeutet, vierundzwanzig Stunden am Tag umgeben von einer giftigen Außenwelt in einem strahlensicheren Bunker zu verbringen - und das über einundvierzig Wochen hinweg!
    Die Belastung der Maschinenführer, die die Kräne und Transportfahrzeuge von hier aus fernsteuern müssen. Ihre Angst, einen Fehler zu machen, versehentlich ein Leck im alten Sarkophag zu verursachen oder irgendwo steckenzubleiben. Die Schwere dieser Verantwortung können die hohen Herren in tausend Kilometern Entfernung nicht mal im Ansatz ermessen. Wir sind auf unserer Insel auf uns allein gestellt. Für uns gibt es keine Welt außerhalb von Prypjat.«
    Bei diesen Worten nickten die drei Vermummten in den Schutzanzügen hinter ihrem Tisch. Matt achtete nicht darauf, sondern verfolgte weiter Sacharovs Bericht.
    »Die Einzigen, die sich nach draußen wagen, sind die Liquidatoren. Schon die Männer, die vor fünfundzwanzig Jahren den ersten Sarkophag errichteten, nannte man so; ich weiß nicht, warum. Im Andenken an diese Helden hat man die Bezeichnung beibehalten, auch wenn die Aufgabe jetzt eine andere ist. Mit ihren Schutzanzügen und Atemmasken wagen sie sich bis an den Reaktorblock heran, zum Beispiel wenn Reparaturen an den Baumaschinen anstehen. Ich bewundere diese wagemutigen Kerle, aber ich beneide sie nicht. Dass sie von uns allen die beste Bezahlung erhalten, ist nur allzu gerechtfertigt.
    Doch nicht nur sie haben mit der psychischen Anspannung zu kämpfen. Und so jagt in meiner Praxis ein Termin den nächsten. Die Menschen sehen mich als Ratgeber an, als väterlichen Freund. Aber ich fürchte, wenn ich nicht mein eigener Patient werden will, muss ich bald kürzertreten.«
    Wieder erlosch das Bild auf dem Monitor. Querstreifen zogen sich von oben nach unten. Dahinter konnte man Sacharovs Gesicht erahnen. Auf Matt wirkte es, als habe man sie nachträglich bearbeitet. Dieser Verdacht wurde nur Augenblicke später bestätigt. Denn erneut erschien die Miene des Psychotherapeuten - diesmal allerdings mit einem dichten weißen Bart und entsetzten Augen. Matt konnte sich nicht vorstellen, dass Sacharov nur so selten vor die Kamera getreten war, also musste jemand Teile herausgeschnitten haben.
    »Die Nachricht von dem Kometen hat eingeschlagen wie - nun ja, wie ein Komet. In Neu-Prypjat herrscht helle Aufregung, der auch ich mich nicht entziehen kann. Noch weiß man nicht, ob und wann er die Erde trifft, und falls ja, wo er einschlägt. Für die Öffentlichkeit spielen die Pressestellen und Wissenschaftler die Angelegenheit noch herunter. Ihnen liegt nichts an einer Panik. Doch die Anweisungen, die die Projektleiter in Moskau uns zukommen ließen, sind eindeutig: Wenn ›Christopher-Floyd‹ auf die Erde stützt, hat die Menschheit ein weit größeres Problem als die Überreste eines vor Jahren verunglückten Kernkraftreaktors.
    Wenn er allerdings in der Atmosphäre zerbricht und nur die Trümmerteile einschlagen, könnten die Erschütterungen den alten, maroden Sarkophag einstürzen lassen. Die Projektleiter haben Bedenken, dass die neue, unvollendete Hülle noch nicht stabil genug ist. Sie könnte also in sich zusammensinken und eine radioaktive Wolke käme frei! Aus diesem Grund lautet die Anweisung: Arbeitet schneller! Die Ummantelung muss fertig werden, bevor der Komet kommt.«
    Wieder unterbrach eine erkennbare Schnittstelle die Aufnahme. Als Sacharovs Gesicht sich erneut aus dem Rauschen hervorschälte, wirkte er ausgezehrt und um Jahre gealtert. Matt bezweifelte jedoch, dass tatsächlich so viel Zeit vergangen war. Die Augen des Ukrainers huschten ruhelos hin und her, auch wenn er sich offenbar bemühte, die

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