296 - Totes Land
Ladefläche eines LKWs stand. Die beiden Vermummten der Prozession erklommen das Fahrzeug und bauten sich links und rechts neben ihrem Oberhaupt auf. Von dem dritten fehlte jede Spur. Niemand schien sich daran zu stören.
Der Pryptenführer sah hinab auf sein Volk. Trotz der Gasmaske glaubte Matt, ein selbstzufriedenes Lächeln auf dem feisten Gesicht auszumachen. Neben all der bedrohlichen Imposanz, die der Oberste Liquidator ausstrahlte, wirke er in erster Linie lächerlich.
Lass dich nicht von ihm täuschen! Du weißt, wozu er fähig ist. Du weißt, wozu er dich gezwungen hat.
Die Gesänge der Menschen ebbten ab, sodass Matt die Litanei des Fettbergs wieder besser verstehen konnte. Mit einer Fistelstimme, die ebenfalls kaum Ähnlichkeit mit seiner Erinnerung aufwies, verkündete er das Anbrechen einer neuen Generation. Bald werde er das Volk einladen, der rituellen Zeugung eines Nachfolgers beizuwohnen. Doch zunächst müsse das frische Frauenfleisch der Reinigung unterzogen werden.
Durch eine Lücke zwischen den Menschen sah Matt einen Mann aus dem Loch im Hangar treten, der ihn an die Patrouillengänger auf Prypts Straßen erinnerte. Ein Tempelwächter mit Gasmaske. Diese Dinger erfüllten vermutlich überhaupt keinen Zweck, sondern dienten als Zeichen des Rangs, den man innehatte.
Der Kerl strebte zu einem kleinen, abseits gelegenen Flachgebäude, das früher als Lager oder Werkzeugschuppen gedient haben mochte. Er verschwand darin, tauchte aber nur Sekunden später wieder auf.
Sofort brandeten die kehligen Jubelgesänge des Volks ein zweites Mal auf. Offenbar galten sie der Begleiterin des Tempelwächters, die dieser hinter sich herzerrte. Eine Frau mit blutverschmiertem Gesicht, strähnigen Haaren, stumpfem Blick und geplatzten Lippen. Das frische Frauenfleisch !
Hätte ihr Körper nicht die vertrauten Linien aufgewiesen, Matt hätte sie kaum wiedererkannt.
Es war Aruula!
***
Bei ihrem Anblick überrollte Matthew Drax erneut die Erinnerung an Xijs und Rulfans Tod. Waren sie ihm bisher fast wie die von Fremden vorgekommen, trafen sie ihn nun mit der Wucht eines Güterzugs.
Der Mann aus der Vergangenheit taumelte einige Schritte in den Wald zurück, lehnte sich gegen einen Baumstamm und übergab sich. Er schmeckte Magensäure und Blut. Die körperliche Anstrengung der Magenkontraktionen trieb ihm den Schweiß auf die Stirn.
Konnten diese Symptome tatsächlich nur die Folgen des Erdwühlergifts sein? Tiisiv hatte ihm doch versprochen, dass es ihm bald besser ging. Stattdessen fühlte er sich minütlich schlechter.
Das ist der falsche Augenblick, sich darüber Gedanken zu machen. Du stehst so knapp vor dem Ziel. Bleib standhaft!
Ja! Er durfte nicht ins Wanken geraten. Nicht jetzt. Nicht so kurz vor seiner Rache.
Der Hass wirkte wie ein Schmerz- und Aufputschmittel zugleich. Er schwemmte die Übelkeit hinweg, erfüllte ihn stattdessen mit der nötigen Kraft.
Als Matt an den Waldrand zurückkehrte, war weder von Aruula noch von dem Fettkoloss etwas zu sehen. Die Menschenmenge strömte unter feierlichem Singsang ins Innere des Tempels.
Er wartete einige Minuten ab, bis auch der Letzte in der Halle verschwunden war. Erst als er sicher war, dass sich kein Prypte mehr außerhalb aufhielt, kam er aus dem Wald. Ein eigenartiges Gefühl überfiel ihn, als er den freien Platz zwischen all den verfallenen Baumaschinen betrat. Erneut erklang die Stimme in seinem Hinterkopf und drängte ihn zur Flucht.
Er ignorierte sie, zog den Driller und hastete los. Jeden Schritt, jede Erschütterung spürte er bis unter die Schädeldecke. Auf halber Strecke fühlte er, wie ihm Blut aus der Nase schoss. Doch er gab nicht auf. Nicht so kurz vor dem Ziel.
Er rannte weiter, bis er das Loch in der Hangarhülle erreichte. Mit pumpender Lunge und rasendem Herzen blieb er daneben stehen und spähte vorsichtig hinein. Der Anblick überraschte und schockierte ihn gleichermaßen.
Das Überraschende war, dass die Halle nicht das eigentliche Gebäude darstellte. Sie überspannte lediglich einen weiteren fabrikähnlichen Bau, einen teilweise zerstörten grauen Betonklotz. Die Menge der Prypten wandte ihm den Rücken zu und starrte wie hypnotisiert in Richtung der Ruine.
Das Schockierende war, dass Matt den Gebäudekomplex kannte .
Er und seine Kameraden von der US Army hatten ihn im Rahmen ihrer Ausbildung gesehen, in einer Dokumentation über eine ukrainische Stadt namens Prypjat. Dieser Ort hatte sich im Jahr 1986 in eine
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