306 - Ein Hort des Wissens
Alastar hätte töten können. »Wir wissen es nicht genau. Tatsache ist, dass beide uns enttäuscht haben.«
»Verstehe.« Das schien sein Lieblingswort zu sein.
»Tatsache ist auch, dass ich einen neuen Chefexekutor brauche, Varmer.«
»Verstehe.« Und schon richtete der bärtige Hüne sich wieder auf. Wie ein lauerndes Raubtier kam er dem Meister jetzt vor.
»Ich dachte dabei an dich, Varmer.«
»Verstehe...« Varmers Stimme klang heiser plötzlich, er schluckte. Natürlich überwältigte ihn die Freude, was denn sonst?
»Ich ernenne dich hiermit also vorläufig zum stellvertretenden Chefexekutor«, sagte Chan, und fügte hinzu: »Vorläufig, weil ich noch ein paar Monde abwarten will, wie sich die Dinge entwickeln. Wenn du dich bewährst, Varmer, werde ich nicht zögern, dir Alastars Posten als Chefexekutor endgültig anzuvertrauen. Deine erste Bewährungsprobe wird sein, einen Gefangenen zu machen...«
Varmer sprang auf, das Gewehr polterte zu Boden. »Es ist mir eine große Ehre, verehrter Meister!« Er stand stramm und legte die ausgestreckten Pranken an die Außenseiten der Oberschenkel. »Meine ganze Kraft werde ich einsetzen, damit Eure Befehle... mein Blut, mein Leben...«
»Genug, Varmer!«, fuhr ihm Meister Chan in die Parade. »Nicht so viele Worte, Taten will ich sehen.«
Varmer bückte sich nach seiner Waffe, hängte sie um seine Schulter, stand wieder stramm. Meister Chan erteilte ihm den Befehl: Er erklärte ihm, was er und sein Tötungskommando zu tun hatten und welchen Gefangenen er von Varmer erwartete. Jeden Satz ließ er den frisch gebackenen stellvertretenden Chefexekutor wiederholen.
»Die Sache ist mir wichtig, Varmer«, schloss Meister Chan. »Sehr wichtig sogar. Ich verlasse mich auf dich. Gib mir über einen unserer Funkposten in den Bergen oder an der Westküste Bescheid, wenn die Sache erledigt ist. Und sobald du den Gefangenen hier unten bei mir in der Verbotenen Zone ablieferst, wirst du ein vollwertiger Chefexekutor sein.«
»Ihr werdet es nicht bereuen, auf mich zu gesetzt zu haben, verehrter Meister.« Varmer schulterte sein Gewehr, drehte sich um und ging zur Tür. Dort nahm er sein Schwert und schob es in die Rückenscheide.
»Warte noch einen Augenblick, Varmer«, sagte Meister Chan, als der schwarz gewandete Hüne die Hand schon auf der Türklinke liegen hatte.
Varmer drehte sich um. »Ja, verehrter Meister?«
»Warum nennt man dich eigentlich ›Jesus‹?«
Ein verlegenes Feixen huschte über das breite Vollbartgesicht. »Hoss hat das aufgebracht, Meister.«
»Hoss?« Chan hörte den Namen zum ersten Mal. Allerdings hatte er es immer Alastar überlassen, sich die Namen der Exekutoren einzuprägen.
»Meine rechte Hand, verehrter Meister. Habe Hoss schon das eine oder andere Mal aus der Scheiße gezogen, einmal sogar aus den Klauen eines Eluus.«
»Und wie kam er auf Jesus, dieser Hoss?«
»Seine Mama wollte immer, dass er es mal zu etwas bringt, da hat sie ihn gezwungen, lesen zu lernen. Er musste jeden Tag in einem Buch lesen, darin ging’s hauptsächlich um einen Jesus, und darum, dass man die rechte Backe hinhalten soll, wenn man sich auf die linke eine fängt. Das sage ich auch manchmal, wenn ich einem so richtig eine gelangt habe und er noch immer nicht reden will. ›Halt die andere Backe hin‹, sag ich dann. Und deswegen haben sie angefangen, mich ›Jesus‹ zu nennen.«
»Aha.« Meister Chan war nicht sicher, ob er verstand, aber er nickte. Es gab noch eine zweite Frage: »Was ist mit dem Schwert? Alle benutzen ihr Gewehr. Nur du schleppst zusätzlich noch diese schwere Klinge mit dir herum.«
»Eine persönliche Vorliebe, Meister.« Diesmal sah das Feixen, das über Varmers bärtige Miene huschte, selbstgefällig aus. »Diese Gewehre... die machen ›bumm‹ und die Leute fallen um, wisst Ihr? So ein Schwert jedoch...« Er zog die Klinge aus der Scheide, fasste sie mit beiden Händen und hielt sie ausgestreckt vor sich hin. »Wenn man damit zuschlägt, dann spürt man in jedem Finger, in jedem Muskel und bis in den Rücken hinein, was man tut und vor allem was man bewirkt, versteht Ihr? Dann fühlt man ganz genau, warum die Leute umkippen.«
»Verstehe«, sagte Meister Chan, und jetzt war es seine Stimme, die ein wenig heiser klang. »Geh jetzt, Varmer, und vergiss nicht: Alle drei Tage will ich einen Bericht. Du selbst kommst erst dann zurück, wenn du den Auftrag erledigt hast. Und nur mit dem Gefangenen.«
***
Meinhart Steintrieb eilte von
Weitere Kostenlose Bücher