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32 - Der Blaurote Methusalem

32 - Der Blaurote Methusalem

Titel: 32 - Der Blaurote Methusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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als Richard geendet hatte. Er trat zu ihm und fragte leise: „Wollen wir mal, Junge?“
    „Ja.“ nickte der Gefragte. „Aber ja nichts Dummes!“
    „Nein, sondern, ‚Wenn die Schwalben heimwärts ziehn‘, weißt's schon! Fang mal an!“
    Der Methusalem erhob sich, als er sah, was vorgehen sollte, von seinem Platz. Gottfried sah es und gab ihm einen beruhigenden Wink. Da setzte der Student sich wieder nieder, denn nun wußte er, daß der Wichsier keine Dummheit machen werde.
    Gottfried ließ sich nur ganz selten mit einem ernsten Stück hören, wenn er es aber tat, so mußte man ihn bewundern. Er war in seiner Art ein Virtuos auf dem Instrument, welchem scheinbar kein richtiger Ton zu entlocken war. Der beste Fagotter hatte auf Gottfrieds Fagott nicht die leichteste Melodie fertiggebracht; dieser letztere aber kannte alle guten und schlechten Eigenschaften seines Instruments. Er allein wußte, wo die herrlichsten Töne in demselben zu suchen und wie sie herauszubringen seien. Er hatte sein Fagott studiert wie ein Reiter sein häßliches Pferd, welches keinem gehorcht, aber zum trefflichsten Roß wird, sobald sein Herr sich in den Sattel geschwungen hat.
    Richard hatte oft mit ihm gespielt. Er kannte alle seine Lieblingsstücke, zu deren besten das genannte gehörte. Er begann die Einleitung; dann fiel Gottfried ein. Er blies die Melodie des bekannten, innigen, aber anspruchslosen Liedes in einfacher Weise bis zu Ende. Dann ließ er eine leichte Variation folgen; es kam eine schwierigere, und dann perlten die Töne in Sechzehntel- und Zweiunddreißigstelnoten so zart und lieblich, so rein und eigenartig voll hervor, daß selbst der anspruchsvollste Kenner hätte zugeben müssen, daß er weder diesem Gottfried noch seiner alten Fagottoboe so etwas zugetraut habe. Es war wirklich eine außerordentliche Leistung, und zwar auf einem Instrument, welchem man die Bedeutung eines Soloinstruments sonst abzusprechen pflegt.
    Die Zuhörer saßen lautlos da. Der Onkel Daniel fühlte sich tief ergriffen. Eine echte deutsche Melodie, in diese Weise vorgetragen, mußte auf ihn, der sich so nach seiner Heimat sehnte, einen mehr als gewöhnlichen Eindruck machen. Er mußte sich Mühe geben, nicht zu weinen, und rief, als der Gottfried geendet hatte und sein Fagott neben das Pianino lehnte: „Herrlich, herrlich! Ich danke Ihnen außerordentlich, Herr Jones! Das ist eine deutsche Melodie. Sie können auch solche spielen?“
    Er hatte englisch gesprochen.
    „Yes“, antwortete der Gottfried.
    „Und Sie haben Sie in England gelernt?“
    „Yes.“
    „Spielt und singt man denn dort auch deutsche Lieder?“
    „Yes.“
    „Bitte, würden Sie noch eins blasen?“
    „Yes.“
    Dieses ‚Yes‘ war das einzige englische Wort, von welchem er genau wußte, daß er es richtig ausspreche. Der Methusalem befreite ihn aus seiner Verlegenheit, indem er Richard bat, einige deutsche Lieder zu spielen.
    Der Gymnasiast folgte dieser Aufforderung, hütete sich aber sehr, diese Lieder zu singen. Der Onkel durfte ja noch nicht wissen, daß seine Gäste des Deutschen mächtig seien.
    Dennoch machten die Melodien auf den Hauswirt den Eindruck, daß er ganz schwermütig wurde. Er bemerkte, daß er dadurch die vorherige heitere Stimmung seiner Gäste schädige und entschuldigte sich: „Ich bitte um Verzeihung! Der Deutsche bleibt eben ein Melancholikus, wohin er nur kommen mag. Ich liebe mein Vaterland und bin doch durch die Verhältnisse abgehalten, es jemals wiederzusehen. Das stimmt mich, sooft ich daran denke, trübe. Lassen Sie also lieber nun etwas recht Munteres, Lustiges hören.“
    „Ja“, stimmte der Methusalem bei. „Mister Jones, blasen Sie doch einmal das famose Ding, welches, glaube ich, ‚Auf dem Bauernhofe‘ überschrieben ist!“
    Gottfried verstand das Englische weit besser, als er es sprach. Er wußte, was der Blaurote meinte.
    „Yes“, sagte er, indem er wieder zu seinem Instrument griff.
    Und leise flüsterte er Richard zu: „Mach deine Sache jut und falle mich nicht so oft aus die Taktmäßigkeit wie jewöhnlich! Wenn dat Ding jut jespielt wird, sollst du sehen, wie sich diese Chinesigen vor Lachen die Bäuche halten. Also los!“
    Richard spielte die sehr ernste, ja würdig gehaltene Einleitung. Dann setzte der Gottfried sein Fagott an, im nächsten Augenblick wieder ab – ein Hahn hatte gekräht. Das hatte so täuschend geklungen, daß die Chinesen in alle Ecken schauten, um den Hahn zu sehen, und auch der Dicke

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