32 - Der Blaurote Methusalem
Methusalem schob die Vorhänge ein klein wenig
zurück, um hinausblicken zu können, ohne selbst gesehen zu werden.
Ein Gedränge, wie es in diesen Straßen gab, war ihm noch niemals
vorgekommen. Übrigens war, sobald die eigentliche Stadt erreicht wurde,
von ‚Straßen‘ keine Rede. Die Gassen waren so schmal, daß die Sänfte
die halbe Breite des Weges einnahm. Sie glichen den Schlupf- und
Seitengäßchen alter deutscher Kleinstädte. Die Häuser hatten oft nur
das Parterre, nie aber mehr als einen Stock, und alle waren mit Läden
versehen, welche offenstanden, so daß man die Waren und den Verkäufer
sehen konnte. Die Dächer hatten die sonderbarsten Formen und waren mit
fremdartigen Schnörkeleien versehen. An jedem Haus hingen lange,
schmale Firmenschilder senkrecht hernieder, während sie bei uns platt
an die Mauer befestigt werden. Sie trugen an beiden Seiten in
chinesischer Schrift ein Verzeichnis der hier ausgestellten Waren und
den Namen des Ladenbesitzers. Will man sich ein Bild von dem Verkehr
machen, welcher sich in diesen Gassen bewegte, so muß man sich die
Schlußzeit einer Theatervorstellung denken, wo sich das dicht
zusammengedrängte Publikum in geschlossener Masse durch die Ausgänge
schiebt. Und doch ist dieser Vergleich unzureichend, da hier in den
Gassen sich ja nicht alle in einer und derselben Richtung bewegten,
sondern zwei Strömungen gegeneinander stießen. Hier durchzukommen,
konnte eben nur Chinesen gelingen.
Da kamen ernste, berittene Mandarine mit einem Gefolge von Dienern,
Kulis mit schweren Lasten, die ein türkischer Hammal wohl kaum hätte
überwältigen können, beladene Esel und Maultiere, Ausrufer, Handwerker,
Geschäftsleute, ambulante Verkäufer, Bettler, Soldaten und Kinder,
welche, wenn es Knaben waren, mit ihren ernsten Gesichtern und auf dem
nackten Schädel hin und her bammelnden Zöpfchen einen eigenartigen
Anblick boten. Das gab ein Schieben, Stoßen und Drängen, ein wüstes
Durcheinander, welches ganz unentwirrbar zu sein schien. Das schrie,
plärrte, brüllte, heulte und lachte, dazu das Hämmern der Schmiede, das
Klappern der Verkäufer, das Klingeln der Garköche, das Hacken und
Klopfen der Fleischer und hundert anderen Geräuscharten, welche
zusammen ein dumpfes Brausen ergaben. Alle Stände waren vertreten; auch
Frauen erblickte man, wenn auch ganz selten. Diese gehörten den
niederen Ständen an und hatten unverstümmelte Füße. Erblickt man doch
einmal ein weibliches Wesen, welches mit verkrüppelten Klumpfüßen, sich
auf einen festen Stock stützend, mühsam durch das Gedränge humpelt, so
ist es gewiß eine verarmte und nun doppelt arme und elende Person,
welche nun durch die Not zum Gehen gezwungen wird.
Zu beiden Seiten öffneten sich die Läden und Buden der
Seidenhändler, Schuhmacher, Stoffhändler, Mützen- und Hutmacher,
Lackwarenarbeiter, Porzellanhändler, Barbiere, Geldwechsler,
Kuchenbäcker, Blechschmiede, Fleischer, Obsthändler, Gemüsekrämer und
vieler andrer. Meist waren, wie in den türkischen Bazars, die
gleichartigen Geschäfte in einer Straße zusammengelegt. Die Gassen
endeten in triumphbogenartig überwölbten Pforten, welche des Abends
verschlossen werden, um die Aussicht zu erleichtern. Und dabei
herrschte überall ein Halbdunkel, weil die Gassen eng sind und zum
Schutz gegen Sonne oder Regen mit Strohmatten überdeckt werden.
So ging es durch die Drachen-, Gold-, Schatz-, Seiden-, Apotheker-,
Wechsler-, Tiger- und Silbergassen an der Blumen- und später an der
Pagode der fünfhundert Geister vorüber. In Europa wäre es geradezu ein
Ding der Unmöglichkeit, sich da durchzuarbeiten; der Chinese bringt es
fertig; er ist es nicht anders gewöhnt.
Einen ekelhaften Anblick boten die Bettler, deren es außerordentlich
viele gab. Sie standen, lehnten, hockten, wackelten, schlürften und
taumelten allüberall herum. Ihr Aussehen war erbärmlicher als
erbärmlich. Sie waren mit allen möglichen und unmöglichen Schäden und
Gebrechen behaftet, hatten sich die Gesichter absichtlich mit
stinkendem Schmutz oder Blut beschmiert und der Grausamkeit der Natur
so sehr und auf alle Weise nachgeholfen, daß man sich mit Abscheu von
ihnen wenden mußte. Und doch werden sie von der Polizei geduldet. Das
Bettlertum bildet in China eine soziale Macht, von deren Bedeutung und
Einfluß der Europäer gar keine Ahnung hat.
Endlich hielten die Träger auf einer etwas breiteren Straße vor
einem großen, palastähnlichen Haus. Der gänzliche Mangel
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