321 - In 80 Welten durch den Tag
man so etwas bezeichnen, wenn nicht als Ironie?
Tom wusste nicht, ob er die Seuche überlebt hatte, weil ihn das Wasser des Jungbrunnens davor schützte oder weil er zu den fünf Prozent gehörte, die eine natürliche Immunität dagegen aufwiesen. Es scherte ihn auch nicht.
In den Stunden der Not war er wieder mit seiner Ex-Frau Abby zusammengekommen. Allerdings riss die Seuche sie nur Monate später erneut auseinander.
In seinem Schmerz verließ er die Vereinigten Staaten und reiste nach Europa. Ziellos irrte er umher und beobachtete das große Sterben, gegen das sich die Pest früherer Jahrhunderte wie eine Erkältungswelle ausnahm. In Spanien lernte er eine junge Frau namens Maria Luisa und ihren autistischen Bruder Alejandro kennen.
In einer anderen Welt und einer anderen Zeit hätte er sich vielleicht in sie verlieben können, aber nicht so kurz nach Abbys Tod. So hart es klingen mochte, im Nachhinein war er froh, dass er sein Herz nicht verloren hatte, denn auch Maria Luisa und ihre Familie starben nur Monate später.
Im Laufe der folgenden Jahrhunderte hatte sich die Situation nicht gebessert. Der Virus existierte selbst heute, im Jahr 2376, immer noch und brachte fünfundsiebzig Prozent aller Neugeborenen um.
Seuchen und Verzweiflung – ein idealer Nährboden für religiöse Eiferer. Sie schoben die große Reinigung , wie sie es nannten, auf Gottes Willen, der seine Kinder für ihren Hochmut bestrafte, mit Forschung und Technik hinter das Geheimnis der Schöpfung kommen zu wollen. Allein die Rückbesinnung auf die alten Werte, Demut, Enthaltsamkeit und Unterwürfigkeit gegenüber den geistigen Führern versprach Rettung. Innerhalb kürzester Zeit folgten den Gottsprechern Scharen von Verzagten, die auf Erlösung hofften.
Seine frühere Tätigkeit als Archäologe übte Tom längst nicht mehr aus. Archäologie bedeutete Wissenschaft, und Wissenschaft bedeutete Sünde.
Mit einem Blick auf Fergos Narben fragte er sich, ob sein Stammgast einem mit Flammenwerfern bewaffneten Inquisitionskommando im letzten Augenblick entkommen war.
Scheiß drauf, dachte er sich. Ich glaube, ich frage ihn doch.
» Du, Fergo?«
»Hm?«
»Was ich schon immer wissen wollte...«
Da öffnete sich die Tür zum Dirty Digger und ein großer hagerer Mann mit weißem Haar betrat das Pub. Sein langer Mantel schleifte beinahe über den Boden.
Die Kleidung erinnerte an einen Befrager, wie sie der Inquisition häufig vorangingen. Der Gesichtsausdruck mit seinem traurigen Lächeln sprach jedoch dagegen. Befrager lächelten nicht. Weder traurig noch sonst irgendwie.
»Willkommen in meiner bescheidenen Hütte«, begrüßte Tom den Gast. »Gemäß Artikel 4 Abschnitt 3 der inquisitionsgegebenen Bewirtschaftungsverordnung muss ich jeden Gast darauf hinweisen, dass ich keine alkoholischen Getränke ausschenke und dass selbst das Ale und der Whisky statt Alkohol mit synthetischen Geschmacksverstärk-«
Das Wort blieb ihm im Hals stecken, als der Hagere ein Kästchen aus der Manteltasche zog. Es erinnerte ihn an eine Fernbedienung oder ein Handy aus früheren Tagen. Mit anderen Worten: Technik!
Eine noch schlimmere Sünde als der Genuss von Alkohol.
»Was tun Sie da?«, brauste Tom auf. »Verlassen Sie umgehend mein Lokal!«
Der Weißhaarige dachte nicht daran. Stattdessen streckte er Tom das Kästchen entgegen und feuerte einen gleißenden Strahl in den Leib des Barkeepers.
Tom starb, ohne das Geheimnis um Fergos Narben ergründet zu haben.
***
Sie wurden durch die gleißende Öffnung aus der Kammer nach draußen – oder wohin auch immer – gezogen. Für einen nicht messbaren Augenblick hatte Matthew Drax den Eindruck, als kämen ihnen Dinge entgegen, die der Sog in die entgegengesetzte Richtung zerrte. Aber wie sollte das möglich sein? Die Strömung konnte schlecht in beide Richtungen gehen.
Dann spuckte das Tor sie aus. Matt sah Sträucher, hohes Gras, Baumstämme auf sich zurasen. Er zog den Kopf zwischen die Schultern.
Der Aufprall presste ihm die Luft aus den Lungen. So gut es ging, rollte er sich ab. Er brach durch Geäst. Steine und Wurzeln bohrten sich ihm in die Rippen und hinterließen Blutergüsse und Schnittwunden. Dann krachte er gegen einen Baum und blieb endlich liegen.
Neben sich hörte er Xij stöhnen.
Mühsam wollte er sich hochstemmen und der jungen Frau helfen. Da erfasste ihn der Sog erneut und versuchte ihn zurückzuziehen!
O nein! Nicht wieder zu den Schattenkerlen!
Hastig klammerte er sich an dem
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