322 - Götterdämmerung
Gebirgspässe zum Feuertor. Vom Fjellwald über die Sümpfe bis hinab in die Täler waren sie den anderen Stämmen Rechenschaft schuldig. Und jetzt, wo es darauf ankam, zierte sich ihr Anführer, die Einzige zu befragen, die mit der Zwischenwelt in Kontakt treten konnte. »Frega hat recht. Du musst die Seherin befragen!«
Wikingerhäuptling Efstur hasste es, wenn er bedrängt wurde. Und noch mehr hasste er es, wenn Frega recht hatte. Er warf seinem vorlauten Weib einen vernichtenden Blick zu. Keine seiner anderen Frauen würde es je wagen, so mit ihm zu reden. Immer und ohne Umschweife sprach Frega aus, was sie dachte. Dabei scherte es sie nicht, ob nur er oder ganz Jotunheimen zuhörte. Am liebsten hätte er ihr den Hals umgedreht, doch das wagte er nicht. Was Frega an Schönheit fehlte, machte ihre Klugheit wett. Sie war ihm an Geist überlegen und ihre Zunge ein Schwert, mit dem sie nicht nur seine anderen Frauen, sondern die gesamte Dorfgemeinschaft für sich einzunehmen verstand.
Trotzdem würde er eher ins Reich der schrecklichen Hel hinabsteigen, als Frega vor seinen Leuten rechtzugeben. »Seit wann macht der Häuptling von Jotunheimen einer Seherin seine Aufwartung, hä? Die Alte weiß, was sich gehört. Und das ist mein letztes Wort.« Damit kehrte er seiner Hauptfrau den Rücken und bahnte sich eine Gasse durch die verstummte Menge. Nachdem er nun geklärt hatte, wer hier der Anführer war, ging es ihm besser. Doch auf seinem Weg zum Gemeinschaftshaus fühlte er sich zunehmend unwohl unter den Blicken der schweigenden Jotunheimener.
Außerdem fröstelte ihm plötzlich bei dem Gedanken, dass tatsächlich irgendwelche Dämonen durch das Feuertor gekommen sein könnten. Falls ja, was hatten sie vor? Waren sie auf den Weg hierher? Fragen, die nur Widda beantworten konnte. Und mit ihr hatte sich Efstur schon vor langer Zeit überworfen. Der Gedanke, der Alten als Bittsteller gegenübertreten zu müssen, schauderte ihn fast genauso wie die Vorstellung einer Dämoneninvasion. Doch es half alles nichts. Wollte er sein Gesicht nicht verlieren, musste er jetzt handeln.
Zähneknirschend verhielt er im Schritt und wandte sich noch einmal um. »Ich werde Odin eine Opfergabe bringen. Er wird mir Weisheit für die nächsten Schritte schenken.« Während er wieder kehrtmachte und die letzten Meter zur Halle zurücklegte, stellte er selbstgenügsam fest, dass seine Worte die meisten der Anhänger zufriedenstellten. Beim Gemeinschaftshaus angekommen, schritt er aufrecht und majestätisch durch das offene Portal in die Halle des Friedens.
Sobald aber die Lakaien das Tor hinter ihm verschlossen hatten, hetzte er aufgeregt durch den riesigen Saal. »Holt meinen Mantel und bringt mir Met!«, bellte er den wartenden Mägden zu. »Und ihr da, lasst die Schlitten anspannen!«, wandte er sich an die Laufburschen. »Ich muss zum Fjellwald. Snorri der Schmied, mein Sohn Hamskarpur und Glymjandi der Zwerg werden mich begleiten. Sie sollen sich bereitmachen!« Als wäre Hel persönlich hinter ihm her, rannte er zur Feuerstelle am anderen Ende der Halle.
Dort erwartete ihn seine Sklavin Dimmbrá. »Möge Odin dir Weisheit schenken«, rief sie mit dunkler Stimme. Den Blick ihrer moosgrünen Augen auf ihn gerichtet, reichte sie dem Häuptling sein Füllhorn mit Met. Dann fügte sie etwas leiser hinzu: »Was ist mit Gauti? Willst du ohne den Götländer aufbrechen?«
Bei ihren Worten hätte sich Efstur beinahe verschluckt. Ausgerechnet Gauti! Die alte Widda würde ihm einen Schweineschwanz anhexen, wenn er den Gelehrten in ihre Waldklause mitbrächte. Wollte Dimmbrá ihn reizen? Oder wusste sie tatsächlich nicht, dass der Götländer Grund für das Zerwürfnis mit der Seherin war? Argwöhnisch beäugte er sie über den Rand des Trinkhorns. Doch Dimmbrá erwiderte seinen Blick, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Efstur räusperte sich. »Hast du Wachs in den Ohren? Snorri, Hamskarpur und Glymjandi, hab ich gesagt. Und das ist mein letztes Wort.«
Dann wandte er sich ab und vollzog das schnellste Opferritual seines Lebens: Er verbeugte er sich rasch vor der aus Stein gemeißelten Statue Odins und goss den Rest Met über deren Haupt. »Möge die alte Widda mir wohlgesonnen sein«, knurrte er leise. »Und möge sie mir vor allen Dingen nicht auf die Nerven gehen.«
Wenig später saß er auf seinem Schlitten, eingepackt in Fellmantel, Pelzmütze und dicke Handschuhe. An seiner Seite sein erstgeborener Sohn Hamskarpur. In einem
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