33 Cent um ein Leben zu retten
Vater nach Hause kommt. Er ist Richter. Er kennt das Gesetz.
DAS GESETZBUCH .
MEIN VATER IST RICHTER
Mein Vater ist Richter. Mein Vater sagt, ich soll das werden, was ich selbst am liebsten werden will.
Du kannst Fahrer werden, sagt er. Gärtner, Lehrer, Pfarrer.
Mein Vater weiß noch nicht, dass ich nicht jeden Tag zur Schule gehe. Er kennt die neue Regelung nicht, aber es dauert sicher nicht lange, bevor auch er davon erfährt. Bisher weiß es nur meine Mutter.
»Alles?«, frage ich.
»Alles. Entscheide selbst.«
Tief im Inneren, das weiß ich genau, möchte er gern, dass ich Richter werde. Wie er. Dass ich alle seine Bücher erbe und wie er an einem großen Schreibtisch sitzen und mich hinterm Ohr kratzen und schlau aussehen und in allen Gesetzbüchern lesen soll. Sie stehen in seinem Büro und füllen alles aus. KARNOV steht mit schwarzer Schrift auf den gelben Buchrücken. Das klingt ägyptisch, ist es aber nicht.
Ich soll darüber nachdenken, was gerecht ist. Das sagt er: »Denk dran, das Richtige zu tun.«
Ich nicke über den Tisch zu ihm hin: Das Richtige. Ich will immer das Richtige tun! Und darüber denke ich jeden Tag nach: Was ist das Richtige? Ist das Richtige gerecht?
Er sagt: »Gerecht ist, was im Gesetz steht. Bricht man das Gesetz, dann richtet der Richter. Die Strafe ist gerecht.« Er fährt fort: »Dann schlägt der Richter in den Büchern nach, in den Gesetzbüchern (die ich erben soll, die in seinem Büro), und dann findet er die Strafe, die gerecht ist.«
Wie gesagt: Ich denke viel über Gerechtigkeit nach.
Ist es gerecht, dass Kinder verhungern?
Ist das richtig?
Denk mal darüber nach! Nicht den ganzen Tag, aber so etwa fünf Minuten.
Ist das gerecht, zu verhungern?
Hast du dir vorgestellt, wie es ist, zu verhungern?
Wie das im Magen ist?
Wie du immer dünner wirst?
Ein lebendiges Skelett?
»Gerechtigkeit«, sagt der Richter und isst das größte Stück Fleisch, »das ist, wenn der Verbrecher seine Strafe bekommt.«
Er sieht mich an. Er findet, dass ich nicht Feuerwehrmann oder Fahrer werden soll. Er findet, ich sollte Richter werden, aber das sagt er natürlich nicht laut.
Meine Mutter sagt nichts.
»Stehlen ist verboten«, sagt mein Vater.
Ich sage nichts. Das weiß ich doch.
Sogar meine kleine Schwester weiß das. Sie ist zehn Jahre. Sie heißt Sara.
SO LEICHT, SO LEICHT
Ich stehe hinter dem Richter.
Er ist im Internet. Er bezahlt unsere Reise nach Thailand. Wir fahren im Sommer nach Thailand, meine Eltern, meine kleine Schwester und meine Großmutter. Klingt das merkwürdig, dass eine alte Großmutter nach Thailand fährt? Nicht bei meiner Großmutter. Sie ist super.
Bezahlen ist leicht. Das kann jeder machen. Man gibt sein Passwort für die Bank ein, und dann ist es ganz einfach: zwei Sekunden später ist die Reise bezahlt.
Das könnte ich auch.
Das Passwort ist der Schlüssel.
Den Zugang des Richters zum Internet kenne ich auch. Im Grunde ist es also leicht, das Geld des Richters zu überweisen. Man kann es an alle möglichen Orte überweisen. Auch nach Afrika. Klick, klick, klick … und das Geld des Richters landet direkt vor den Füßen der Kinder in Afrika.
»Geht’s um die Bücher?«, fragt der Richter und dreht sich zu mir um. »Du darfst sie gern ausleihen.«
Ich nehme eins von denen, auf deren Buchrücken KARNOV steht. Gelb und schwarz. Aber nicht wegen ihnen bin ich gekommen. Sondern vor allem wegen seines Passworts.
MEINE MUTTER
Sie ist Lehrerin. Sie und der Richter heirateten, als sie schwanger wurde. Das habe ich mir ausgerechnet. Sie war mit mir schwanger. Eigentlich ist das in Ordnung.
Meine Mutter möchte, dass es uns gut geht.
Sie fragt mich, ob ich in der Schule Probleme habe. Vorsichtig. Sie fragt vorsichtig. Sie hat Angst, ich könnte sauer werden oder sagen, ich hätte Probleme. Die neue Regelung quält sie.
»Falls es Probleme gibt …«
Aber es gibt keine. Nicht sehr viele. Ein paar. Natürlich habe ich Probleme. Alle haben welche, habe ich herausgefunden. Auch meine Mutter und mein Vater. Wenn sie Probleme haben, liest er besonders gründlich in den Gesetzbüchern. Und sie sieht Fernsehen und geht zeitig zu Bett. Sie hat Kopfschmerzen.
»Hast du Probleme?«, fragt meine Mutter.
Warum fragt sie?
Das ist die neue Regelung. Merkt sie auch, dass ich über die Gerechtigkeit nachdenke?
Es sieht so aus, als wenn sehr viel Gerechtigkeit fehlt, habe ich herausgefunden. Auch in der Schule. Manche kommen leichter davon als andere.
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