33 Cent um ein Leben zu retten
Die Mädchen sehen so unschuldig aus, und wenn sie ihren Aufsatz nicht rechtzeitig abliefern, neigen sie den Kopf auf die Seite und winden sich und schieben die Brust vor und sehen ganz unglücklich aus, und Herr Olsen lässt sie davonkommen, ohne sie auszuschimpfen. Aber wenn ich das bin, was selten genug vorkommt, oder einer der anderen Jungen, dann verdreht er die Augen und steht auf und brüllt, und wenn er sich traute, bekämen wir eine Ohrfeige. Er traut sich aber nicht. In Wahrheit, da bin ich mir ziemlich sicher, ist er ein Feigling. So wie alle anderen?
Ich bin nicht scharf drauf, ein Feigling zu sein.
Habe ich es schon gesagt? Aufs Bankkonto des Richters zu gehen, ist die leichteste Sache von der Welt. Aber es ist verboten. Das steht im Gesetzbuch. Das ist ein Verbrechen. Sagt der Richter beim Essen. Er weiß alles über Verbrechen, und wenn er mir erklärt hat, dass ich ohne Weiteres in der großen Gärtnerei Gärtner werden kann, dann erzählt er von Verbrechen. Er wünscht sich, dass mich das interessiert und dass ich eines Tages plötzlich in seinem Büro aufkreuze und sage, während er Geld überweist, ich hätte mich jetzt entschieden und wolle auf die Oberstufe und anschließend auf die Universität gehen. Und dort, jetzt spitzt er die Ohren, will ich die Gesetze studieren und alle auswendig lernen. Dann wird er mich ansehen, lächeln und die Arme ausbreiten und mich in den Arm nehmen, und ganz ohne Worte wird er sagen, er glaube, das sei klug, »denn du hast Sinn für Gerechtigkeit«.
So weit ist es nicht gekommen. Bisher reden wir über Verbrechen und dass es verboten ist, auf die Konten anderer zu gehen und Geld zu überweisen. Das verstehe ich.
Ist es auch kriminell, dass Kinder verhungern?
Wird jemand vor den Richter gebracht und gefragt, wie es kommt, weshalb soundso viele, nicht fünf oder sechs, nicht hundert oder zweihundert, sondern Tausende und Abertausende Kinder verhungern?
Und was antwortet der Angeklagte darauf?
Der Angeklagte ist derjenige, der vor dem Richter steht.
Was antwortet er?
Was sagt er?
Sagt er, dass es leider keine anderen Möglichkeiten, keine Rettung gegeben habe? Dass sie leider und ohne dass er etwas hätte tun können, große Bäuche und ganz entsetzlich große Augen und Fliegen in den Augenwinkeln bekommen hätten.
»Leider. Da war leider nichts zu machen.« Wird er so antworten?
LANGE ZEIT
Der Richter weiß nicht, dass sein Sohn eine kriminelle Laufbahn eingeschlagen hat. Am Nachmittag, nach der Schule. So nennt sich das: eine kriminelle Laufbahn.
»Hast du Probleme?«, fragt meine Mutter.
»Nicht wirklich«, sage ich.
Sie glaubt mir nicht.
»Andere«, sage ich, »haben Probleme.«
»Dort in der Schule?« Wir sind nicht an derselben Schule. Meine kleine Schwester und ich gehen auf die Privatschule. Sie ist an der staatlichen Schule.
Ich schüttele den Kopf. »Nicht wirklich«, sage ich, denn es gibt eigentlich keinen Grund, über alle die gewöhnlichen Ungerechtigkeiten in der Schule zu reden.
»Aber da unten in Afrika«, sage ich.
»In Afrika?«
»Dort«, sage ich, »dort gibt es die großen Probleme.«
Sie nickt. Sie weiß nicht so recht, wovon ich rede. Sie ist vom Fernsehen ziemlich abgestumpft. Jeden Abend gibt es etwas Ernstes. Am Ende, habe ich herausgefunden, am Ende sitzen die Erwachsenen da und lassen alles an sich vorbeirauschen: Erdbeben, Finanzkrisen, Arbeitslosigkeit, Kriege, Unruhen, alles. Am Ende sehen sie nur das Ganze, und am Ende, so ist es jetzt, denken sie gar nicht mehr nach.
»Aha«, sagt sie. »Aber dann ist es ja gut.«
Sie meint, es ist gut, dass es in der Schule keine Probleme gibt, also abgesehen von der neuen Regelung.
Ich erwähne Anne nicht. Ein bisschen problematisch. Von Anne sage ich nichts, kein Wort. Anne hat blaue Augen. Anne geht in die B, ich gehe in die A. Steht Anne auch vorm Lehrer und ziert sich so? Ich glaube nicht.
ROBIN HOOD
»Robin Hood«, sage ich.
Der Richter hebt den Kopf vom größten und besten Stück Fleisch. Er sieht mich untersuchend an. Die Stirn ist gerunzelt, die Nase vibriert. Dann kaut er weiter. Er wartet ab, was ich sagen werde, aber ich sage nichts mehr.
Nicht, ehe ich vom Tisch aufstehe. Dann sage ich noch einmal: »Robin Hood.«
KHK
Stehlen ist nicht schwer.
Überall. Aber nicht von meinen Freunden. Nicht von meinem Vater? Nicht von meiner Mutter? Auf keinen Fall von meiner Großmutter.
Stehlen ist nicht schwer. Die Schwierigkeit besteht darin, das, was man gestohlen
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