33 Cent um ein Leben zu retten
trotzdem?«
»Weil die das einfach nicht hinkriegen.«
»Schickst du auch Geld?«, frage ich.
Wieder lässt er die Zeitung sinken. »Ich gebe immer etwas. Immer wenn sie kommen, gebe ich etwas.«
»Du schickst also kein Geld?«
»Wenn ich Geld in die Sammelbüchse stecke, ist das wie schicken.«
»Aber du tust es nicht so, nicht ohne Sammelbüchse?«
Er sagt nichts.
Inzwischen ist der große Kopf mit den Fliegen in der Nase längst weg.
Jetzt ist da ein Mann, der erklärt, warum es gesund ist, Mohrrüben zu essen.
Und wenn man nun keine Mohrrüben hat?
Wenn man nun kein Geld hat, um Brot zu kaufen?
Was dann?
Und selbst wenn die Sammelbüchsen voll werden und mein Vater Geld hineinsteckt und die trotzdem hungern und sterben?
Was dann?
Als ich genug Bilder im Fernsehen und in der Zeitung gesehen und über das nachgedacht hatte, was uns Herr Olsen erzählt hat, mehr als einmal, wie schrecklich es sei, dass Kinder sterben, jeden Tag, jede Stunde, ja in jeder einzelnen Minute, ja, genau alle sieben Sekunden stirbt ein Kind, das habe ich im Radio gehört, da habe ich die KHK eingerichtet, also die Kasse der hungrigen Kinder, und fing an zu stehlen. Das habe ich schon erzählt. Klar wusste ich, dass ich nicht genug stehlen konnte, aber viele Wenig ergeben ein Viel. Das sagt meine Großmutter immer.
GESETZBUCH
Wegen Diebstahls wird bestraft, wer ohne Zustimmung des Besitzers eine fremde bewegliche Sache entfernt, um sich oder anderen durch diese Aneignung einen unberechtigten wirtschaftlichen Vorteil zu verschaffen. Mit beweglicher Sache gleichgestellt wird hier und im Folgenden eine Energiemenge, die zur Hervorbringung von Licht, Wärme, Energie oder Bewegung oder einem anderen wirtschaftlichen Zweck hergestellt, aufbewahrt oder in Gebrauch genommen wurde.
WER IST DER SHERIFF?
Von wem sollte ich stehlen? Wer war der Sheriff?
War mein Vater der Sheriff? Konnte er der Sheriff sein?
Mir wurde klar, dass wir alle Sheriffs sind, alle stehlen voneinander. Wenn es hart auf hart kam, gab es kein Entrinnen. Für niemanden. Auch nicht für den Pfarrer. Auch nicht für mich.
Nur für eine: meine Großmutter.
Wenn aber jeder der Sheriff war, konnte ich eigentlich überall stehlen. Aber das brachte ja auch nichts. Ich musste eine Lösung finden, und am Ende kam ich dahin, dass die großen Geschäfte, die Ketten, dass die so reich waren, so große Sheriffs, dass ich von denen stehlen wollte. Nicht von gewöhnlichen Menschen, selbst wenn manche wahrhaftig genug Geld hatten und ohne Weiteres von der Hälfte dessen leben konnten, wovon sie jetzt lebten. Sie schwelgten in Lebensmitteln, Zucker, Schweinebraten, Fernsehen, Autos, Pullovern, Reisen, allem Möglichen. Sie fraßen so viel, dass sie krank wurden, andere so wenig, dass sie starben.
Netto, Hertie, Wal-Mart, die großen Ketten.
Zuerst richtete ich die Kasse ein. KHK .
Dann stahl ich. Eine Lederjacke. 750 Euro.
HENRIK FRIIS
In den ersten Monaten verkaufte ich das, was ich stahl, an einer anderen Schule. Danach im Anzeigenblatt. Dort lernte ich Henrik Friis kennen. Henrik Friis war ein Sheriff. Ich war kein Robin Hood, und über so etwas redete ich auch nicht mit Henrik Friis. Er sah aufs Preisschild, addierte und dividierte im Kopf, zählte das Geld vor, reichte es mir, und dann ging ich.
Henrik Friis hatte kein Interesse zu reden. Aber neugierig war er. Er fragte, wo ich wohnte. Das erzählte ich nicht. Er fragte, wie ich heiße, und ich nannte einen Namen, einen gewöhnlichen, der aber nicht meiner war. Später wollte Henrik Friis das Geschäft erweitern. Er nannte es Geschäft.
EIN DIEB
Ich wusste genau: Jetzt war ich ein Dieb.
Ich musste aufpassen.
Und ich wusste genau, dass die meisten Diebe früher oder später geschnappt werden. Aber ich glaubte, das vermeiden zu können. Ich war doch ziemlich clever. Ich lernte alle Tricks, und selbst wenn Henrik Friis gefasst würde, konnte er mich nicht anzeigen. Er wusste nicht, wer ich wirklich war. Alles, was ich ihm erzählt hatte, war gelogen.
Die Kasse, KHK , stand bei meiner Großmutter. Daran war ein Schloss. Ich hatte ihr erzählt, darin wären Briefe von meiner Freundin, die meine Eltern und Sara nicht lesen sollten. Meine Freundin heißt nicht Marian. Und ich heiße nicht Robin Hood. Sie heißt Anne. Aber damals war sie noch nicht meine Freundin.
Meine Großmutter verstand das.
ANNE
Eins war wichtig: die sterbenden Kinder. Und noch eins: Anne.
GROSSMUTTER
»Großmutter?«, frage ich.
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