35 - Sendador 02 - In den Kordilleren
war, als ob die Stimme des Sohnes den Sendador ins Leben zurückgerufen habe. Sein Blick gewann Glanz und Leben; er flog von einem zum anderen, ruhte am längsten auf dem Bruder, welcher die Kipus noch immer in der Hand hielt, und blieb dann auf dem Sohn haften.
„Komm her!“ sagte er zu ihm.
Der Sohn kniete neben ihm nieder.
„Leg dein Ohr an meinen Mund; ich kann nicht mehr laut sprechen.“
Der Sohn gehorchte. Der Alte flüsterte ihm leise Worte zu. Ich hielt es für eine Pflicht der Menschlichkeit, sie gewähren zu lassen, tat aber sehr unrecht daran, denn bald sollten wir erfahren, daß es sich um etwas ganz anderes als einen Abschied für immer gehandelt hatte. Der Sohn hörte nur zu; er sprach nicht. Am Schluß neigte er zustimmend und wie gottergeben den Kopf, gab seinem Vater die Hand und richtete sich wieder auf.
„Herr“, sagte er zu mir, „ich höre, daß Sie unsere Kipus besitzen. Wissen Sie, daß dieselben ohne die Zeichnung wertlos sind?“
„Das weiß ich nicht und glaube es auch nicht.“
„Ich biete Ihnen die Zeichnung an.“
„Was verlangen Sie dafür?“
„Unsere Freiheit und dazu die Hälfte der Schätze, welche wir finden werden.“
„Das darf ich nicht versprechen, denn die Schätze sind nicht mein Eigentum.“
„So weigern Sie sich?“
„Ja. Auch Ihre Freiheit kann ich Ihnen nicht versprechen. Ihr Vater besonders gehört vor den Richter.“
Er machte das Gesicht eines Mannes, welcher alles verloren sieht und sich in sein Schicksal ergibt.
„Sie sind grausam, Señor! Niemand hat Sie zum Richter über uns gesetzt. Blicken Sie hinab in die Tiefe, welche da neben uns gähnt; blicken Sie hinab und sagen Sie mir, ob – – –“
Dieser schlaue Mensch hat kein Wort ohne Absicht gesprochen. Wir alle glaubten, es sei metaphorisch gemeint, und richteten, als er von dem Abgrund sprach, unsere Augen unwillkürlich der Tiefe zu. Das hatte er beabsichtigt, denn er wollte nach der anderen Richtung ausbrechen. Er brach mitten in der Rede ab, riß dem in seiner Nähe stehenden Bruder die Kipus aus der Hand, schlug zwei hinter demselben befindliche Chiriguanos auseinander und sprang dann in weiten Sätzen dem Felsenweg zu, welcher hinab zur Salzlagune führte.
Die meisten waren so überrascht, daß sie gar nicht an eine Verfolgung des Flüchtigen dachten. Ich rief ihnen zu, acht auf den Alten zu haben, und sprang dem Jungen nach.
Es kam darauf an, ihn zu hindern, eines der unten stehenden Pferde zu besteigen. Ich sah ihn ungefähr vierzig Schritte vor mir und war natürlich neugierig, welcher von uns der bessere Läufer sei. An der ersten Krümmung war ich ihm um zehn, an der zweiten um zwanzig Schritte näher gekommen. Als er unten aus dem Felsenweg ins Freie flog, hatte ich ihn nur noch zwölf Schritte vor mir. Er sah es nicht, denn er drehte sich nicht um, sondern hörte es. Er wollte zu den Pferden, erkannte aber gar wohl, daß ich ihm diesen Plan durchkreuzen werde. Wenn er am Ufer hinrannte, hatte ich ihn binnen einer Minute erwischt, denn ich hörte seinen Atem schnaufend, fast hustenähnlich gehen, während meine Lunge noch so leicht und frei wie vorher arbeitete; er war ein sehr mittelmäßiger Läufer. Es gab für ihn nur eine einzige Chance, nämlich die Salzdecke der Lagune. Wagte ich mich nicht darauf, und war sie stark genug, sein Gewicht zu tragen, so mußte er vor mir das jenseitige Ufer erreichen. In seiner Aufregung und Angst wagte er es und sprang vom festen Ufer auf die Salzkruste. Ich folgte ihm nicht. Ich war über die Salzdecke der tunesischen Schotts, welche hundertmal gefährlicher sind als so eine kleine bolivianische Lagune, nicht nur gelaufen, sondern sogar geritten; ich fürchtete mich nicht, sein Beispiel nachzuahmen, aber ich konnte ihn ja viel billiger haben. Ich eilte zu meinem Pferd, stieg in den Sattel und galoppierte am Ufer hin, um die Lagune herum. Zu Fuß hätte ich ihm den Weg nicht abzuschneiden vermocht, zu Pferd aber war es eine Leichtigkeit.
Indem ich meinem Weg folgte, hielt ich das Auge natürlich auf ihn gerichtet. Wenn er das Salz kannte, war für ihn von Gefahr gar keine Rede. Wie beim Eis, so kennzeichnen sich auch bei so einer Salzkruste die gefährlichen Stellen, welche keine Tragfähigkeit besitzen, durch ihre Farbe. Man muß sie vermeiden. Übrigens besitzt das Salz eine viel größere Elastizität, als man gewöhnlich glaubt. Zur Regenzeit war die Lagune bis an den Rand mit Wasser gefüllt; nach dieser Zeit verdunstet
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