4 - Wächter der Ewigkeit
der Tür prangte die mit einer Schablone ausgeführte Silhouette eines Mannes, die auch ohne Übersetzung verständlich war. Interessanterweise entdeckte ich keine Tür mit dem Bild einer Frau. Offenbar waren die Samarkander Frauen nicht daran gewöhnt, ihre Zeit in einer Teestube zu verbringen.
»Das ist mir ein Früchtchen, dieser Rustam«, murmelte ich, die Gelegenheit beim Schopf packend. »Ein Trockenfrüchtchen. Ein hartnäckiger Kerl.«
»Aber Afandi ist doch nicht Rustam, Anton«, meinte Alischer.
»Du glaubst ihm also?«
»Vor zehn Jahren hat mein Vater Rustam getroffen, Anton. Ich habe dem damals nicht viel Bedeutung beigemessen … Schön und gut, der alte Hohe lebte noch. Ja und? Viele von ihnen hatten sich zurückgezogen, lebten unbemerkt inmitten der Menschen …«
»Und weiter?«
»Mein Vater kannte auch Afandi. Etwa fünfzig Jahre lang.«
Ich dachte darüber nach.
»Und wie, mit welchen Worten, hat dein Vater dir von Rustam erzählt?«
Alischer runzelte die Stirn. Dann fing er so fließend an zu berichten, als lese er etwas vom Blatt ab: »Heute habe ich einen Großen gesehen, den seit siebzig Jahren niemand irgendwo getroffen hat. Den Großen Rustam. Erst der Freund, dann der Feind Gesers. Ich bin an ihm vorbeigegangen. Wir erkannten einander, haben aber so getan, als bemerkten wir uns nicht. Wie gut, dass ein so kleiner Anderer wie ich nie mit ihm in Streit geraten ist.«
»Siehst du?!« Ich gab mich kampflustig. »Dein Vater hätte Rustam in Afandi erkannt haben können. Genau das meine ich.«
Alischer ließ sich diese Möglichkeit durch den Kopf gehen und räumte ein, dass es so gewesen sein könnte. Trotzdem sei er sich nach wie vor sicher, dass sein Vater nicht von Afandi gesprochen habe.
»Aber das bringt uns sowieso nichts.« Ich winkte mit der Hand ab. »Du siehst ja, wie stur er ist. Wir müssen zu diesem Plateau der Dämonen … Übrigens, was ist das eigentlich? Und erzähl mir jetzt bloß nicht, dass es im Orient Dämonen gibt, die auf irgendeinem Plateau leben!«
»Bei einem Dämon handelt es sich um die Zwielicht-Gestalt eines Hohen Dunklen Magiers, dessen menschliche Natur von der Kraft, dem Zwielicht und dem Dunkel entstellt ist.«
Alischer lachte. »Das lernt man doch in der ersten Schulstunde. Also, das Plateau der Dämonen ist eine Bezeichnung der Menschen. Für eine Stelle in den Bergen, an der Findlinge von bizarrer Form stehen – die aussehen wie Stein gewordene Dämonen. Die Menschen gehen da nicht gern hin. Nur die Touristen …«
»Touristen sind keine Menschen«, pflichtete ich ihm bei. »Das Ganze ist also der übliche Aberglaube?«
»Nein, das ist kein Aberglaube.« Alischer wurde wieder ernst. »Dort hat es eine Schlacht gegeben. Eine große Schlacht zwischen Dunklen und Lichten, vor fast zweitausend Jahren. Die Dunklen waren in der Überzahl, der Sieg schien ihnen sicher zu sein … Und dann hat der Große Lichte Magier Rustam einen entsetzlichen Zauber eingesetzt … Nie wieder hat danach jemand im Kampf den Weißen Höhlenrauch eingesetzt. Die Dunklen versteinerten. Sie konnten nicht ins Zwielicht eindringen, sondern blieben in der gewöhnlichen Welt zurück – als steinerne Dämonen. Ohne es selbst zu wissen, sagen die Menschen die Wahrheit.«
Plötzlich krampfte sich mir das Herz zusammen. In einer kalten, flüchtigen, widerlichen Erinnerung. Ich stand vor Kostja Sauschkin. Und in meinem Kopf flüsterte die ferne Stimme Gesers …
»Der Weiße Höhenrauch«, korrigierte ich Alischer. »Der Zauber heißt der Weiße Höhenrauch. Ihn können nur Hohe Magier wirken, er verlangt nach höchster Konzentration und Absorption der Kraft im Umkreis von drei Kilometern …«
Alischers Worte schienen ein Schloss in meinem Gedächtnis geknackt zu haben. Woraufhin sich die knarrende Tür eines Schranks öffnete, in dem ein altes Skelett versteckt war, das die Zähne zu einem knöchernen Grinsen gebleckt hatte …
Geser hatte mir nicht nur den bloßen Zauber gegeben. Er hatte mir ein ganzes Stück seines Gedächtnisses übermittelt.
Ein großzügiges Geschenk. Etwas Ähnliches war den Zimmerleuten der Danaer auch geglückt. Der Stein verbrennt mir die Füße durch die weichen ledernen Schuhe, der Stein glüht rot, und selbst die in die Kleidung eingewebten Zauber verlieren ihre Kraft. Vor mir raucht ein Körper, der zur Hälfte in einem aufgeweichten Stein verschwunden ist. Nicht bei allen Gefährten halten die Zauber dem Hammer des Schicksals
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