4 - Wächter der Ewigkeit
Organismus immer nach etwas Süßem. Obwohl wir mit fremder Kraft operieren und sie lediglich neu im Raum verteilen, zehrt dieser Prozess an uns. Der Blutzuckergehalt sinkt so stark, dass man leicht in ein Hypoglykämiekoma fallen kann. Passiert dir das im Zwielicht, kann dich nur ein Wunder retten.
»Danach gibt es noch Schurpa und Pilaw«, sagte Alischer, während er sich sein fünftes Gläschen grünen Tees eingoss. »Das Essen hier ist einfach. Aber unverfälscht.«
Er verstummte. Und ich ahnte, woran er dachte.
»Sie sind im Kampf gestorben. Wie es sich für Wächter geziemt«, versicherte ich.
»Das war unser Kampf«, brachte Alischer leise hervor.
»Das war ein gemeinsamer Kampf. Sogar die Dunklen haben sich daran beteiligt. Wir müssen Rustam finden, und niemand wird uns daran hindern. Um Murat tut es mir leid … Er hat Menschen umgebracht und konnte damit nicht leben.«
»Ich hätte es gekonnt«, behauptete Alischer finster.
»Und ich auch«, gab ich zu. Wir sahen uns verstehend an.
»Menschen gegen Andere.« Alischer seufzte. »Ich kann es einfach nicht glauben! Wie in einem Albtraum! Sie waren alle mit Zaubern belegt! Das war das Werk eines Hohen!«
»Von mindestens drei Hohen!«, präzisierte ich. »Ein Dunkler, ein Lichter und ein Inquisitor. Ein Vampir, ein Heiler und ein Kampfmagier.«
»Das Ende der Zeiten ist gekommen.« Afandi schüttelte den Kopf. »Niemals hätte ich geglaubt, dass sich das Licht, das Dunkel und die Furcht verbünden …«
Rasch schaute ich zu ihm hinüber – und erwischte jenen flüchtigen Moment, kurz bevor der einfältige Ausdruck in sein Gesicht zurückkehrte.
»Du bist gar nicht so dumm, wie du immer vorgibst, Afandi«, sagte ich leise. »Warum führst du dich auf, als leidest du an Altersschwachsinn?«
Einige Sekunden lang lächelte Afandi. Dann wurde er wieder ernst. »Der Schwache tut gut daran, sich als Dummkopf auszugeben, Anton. Nur der Starke kann sich Klugheit leisten.«
»Du bist nicht so schwach, Afandi. Du bist in die zweite Schicht des Zwielichts eingetreten und hast es dort fünf Minuten ausgehalten. Kennst du einen bestimmten Trick?«
»Rustam kannte viele Geheimnisse, Anton.«
Einen ausgedehnten Moment lang betrachtete ich Afandi, doch das Gesicht des Alten zuckte nicht. Dann richtete ich den Blick auf Alischer. Der wirkte nachdenklich.
Ob uns beiden der gleiche Gedanke gekommen war?
Vermutlich schon.
War Afandi Rustam? Konnte der einfältige Alte, der jahrzehntelang im Büro einer Provinzwache bescheidene Arbeiten verrichtet hatte, einer der ältesten Magier der Welt sein?
Unmöglich war es nicht. Beileibe nicht. Es hieß, mit den Jahren würde jeder Andere seinen Charakter ändern, würde das Repertoire seiner Eigenschaften schrumpfen. Ein einziger Aspekt der Persönlichkeit gewänne dann die Oberhand. Der gerissene Geser liebte Intrigen, also intrigierte er bis heute. Foma Lermont hatte von einem ruhigen, gemütlichen Leben geträumt, und jetzt arbeitete er in seinem kleinen Garten und unterhielt touristische Einrichtungen. Falls in Rustams Charakter Heimlichtuerei dominiert haben sollte, könnte er diese bis zur Paranoia gesteigert haben und sich nun als schwacher und beschränkter Alter ausgeben …
In dem Fall würde er sich freilich selbst dann nicht zu erkennen geben, wenn ich meine Vermutung äußerte. Ins Gesicht lachen würde er mir, die alte Legende über seinen Lehrer noch einmal herunterleiern … Allerdings hatte er nie behauptet, Rustam habe ihn initiiert! Er hatte diese Geschichte in der dritten Person erzählt: Rustam, der dumme Alte, die Initiation. Das waren wir, die die Stelle des dummen Alten mit Afandi besetzt hatten!
Abermals sah ich Afandi an. Meine erregte Phantasie war jetzt bereit, in seinem Blick sowohl Verschlagenheit wie auch krankhafte Heimlichtuerei zu entdecken. Ja, sogar Bösartigkeit.
»Ich muss mit Rustam sprechen, Afandi«, sagte ich, wobei ich jedes Wort mit Bedacht wählte. »Das ist sehr wichtig. Geser hat mich nach Samarkand geschickt und mich gebeten, Rustam zu suchen, damit ich ihn im Namen der alten Freundschaft um Rat bitte. Nur um Rat!«
»Eine alte Freundschaft ist eine schöne Sache«, meinte Afandi nickend. »Eine sehr schöne! Wenn sie noch besteht. Aber ich habe gehört, Rustam und Gäsär hätten sich zerstritten. So sehr, dass Rustam Gäsär hinterhergespuckt und gesagt hat, er wolle ihn nie wieder auf usbekischem Boden sehen. Aber Gäsär hat nur schallend gelacht und geantwortet,
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