4 - Wächter der Ewigkeit
stand.
»Geser!«, schreit mir ein hochgewachsener, breitschultriger Mann ins Ohr. Sein schwarzer Bart kräuselt sich in der Hitze, die weiß-rote Kleidung ist mit Asche bestäubt. Von oben segeln geklöppelt wirkende grauschwarze Flocken herab und zerfallen zu Staub. »Geser, wir müssen uns entscheiden!«
Ich schweige. Ich blicke auf den rauchenden Körper und versuche, den Toten zu erkennen. Doch in dem Moment versagt sein Schutz endgültig, worauf die Leiche sofort in Flammen aufgeht, sich in eine Säule fettiger Asche verwandelt, die in den Himmel aufsteigt. Ströme ausfließender Kraft wiegen die Asche, die einen Moment lang die gespenstische Figur eines Menschen annimmt. Ich ahne, was da auf uns fallen wird. Ein Kloß schnürt mir die Kehle zu.
»Geser, sie wollen den Schatten der Herrscher aufheben!« In der Stimme des Magiers in weiß-roter Kleidung schwingt panisches Grauen mit. »Geser!«
»Ich bin bereit, Rustam!«, sage ich. Ich strecke ihm meine Hand entgegen. Magier wirken selten einen Zauber zu zweit, aber wir haben viel miteinander erlebt. Zudem ist es zu zweit leichter. Man entscheidet sich leichter. Denn vor uns stehen hundert Dunkle und zehntausend Menschen.
Hinter uns drängen sich lediglich hundert uns treu ergebene Menschen und ein Dutzend Magier-Lehrlinge.
Es ist sehr schwer, sich davon zu überzeugen, dass ein Dutzend Magier und hundert Menschen wertvoller sind als hundert Dunkle und zehntausend Menschen.
Dann blicke ich noch einmal auf die schwarzgraue Asche, und mir wird leichter zumute. Ich sage mir das, was die Starken und Guten sich stets in einer solchen Situation sagen werden. Noch in hundert, in tausend, in zweitausend Jahren.
Vor mir stehen keine Menschen!
Vor mir stehen tollwütige Tiere!
Kraft strömt durch mich hindurch, füllt als pulsierende Brühe meine Adern, Kraft tritt als Blutstrom auf meiner Haut aus. Um mich herum wogt Kraft, viel Kraft. Die aus den getöteten Anderen ausfließt, aus den gewirkten Zaubern wabert, aus den im Angriff auf uns zustürmenden Menschen bricht. Die Dunklen haben nicht von ungefähr eine ganze Armee mit sich geführt. Andere brauchen eine menschliche Waffe nicht zu fürchten, aber die säbelschwingenden Hände, die im Schrei aufgerissenen Münder und die mordgierigen Augen bilden einen lebendigen, mit Kraft gefüllten Schlauch. }e leidenschaftlicher dieser dreckige menschliche Abschaum, den strenge Gebieter oder die eigene Profitgier unter dem Banner des Dunkels zusammengetrieben haben, hasst und kämpft, desto stärker sind die Dunklen Magier unter ihnen.
Wir halten jedoch einen Zauber in der Hinterhand, der noch niemals unter unserer Sonne ausgesprochen worden ist. Von Rustam von einer fernen Insel im Norden mitgebracht, von einem durchtriebenen klugen Lichten namens Merlin ersonnen, hat er sogar seinen eigenen Schöpfer, der dem Dunkel gefährlich nahe steht, mit Entsetzen erfüllt …
Der Weiße Höhenrauch.
Rustam spricht die fremden, grob klingenden Worte aus. Ich wiederhole sie, ohne auch nur zu versuchen, ihren Sinn zu erahnen. Bedeutsame Worte – die jedoch nur die Hände eines Töpfers sind, der den Lehm formt. Eine Tonform, in die geschmolzenes Metall gegossen wird. Bronzefesseln, die den Händen keine Freiheit lassen. Worte beginnen alles und beenden alles, in Worten liegen Form und Richtung. Jede Entscheidung trifft indes die Kraft.
Die Kraft und der Wille.
Länger kann ich die Kraft, die in mir pulsiert, nicht zurückhalten. Mit jedem Herzschlag will sie aus meinem erbärmlichen menschlichen Körper ausbrechen. Rustam und ich öffnen den Mund gleichzeitig. Ich stoße einen Schrei aus – einen wortlosen Schrei.
Die Zeit der Worte ist vorbei.
Weißer Nebel stiebt aus unseren Mündern auf, strebt in einem trübem Schwall in die Höhe und rollt auf die heranmarschierende Armee zu, auf den Kreis der Dunklen Magier, der das Spinnennetz seiner Zauber webt … die nicht weniger grauenvoll sind, aber langsamer … ein wenig langsamer. Die grauen Schatten, die sich bereits aus den Steinen erheben, lösen sich in weißen Nebel auf.
Schließlich erreicht der Weiße Höhenrauch sowohl die Anderen als auch die menschlichen Krieger.
Die Welt vor uns verliert ihre Farben, jedoch nicht so wie im Zwielicht. Die Welt wird weiß, doch es ist das blendende Weiß des Todes, nicht des Lebens – ein Farbgemisch, das ebenso steril ist wie das Fehlen jeglicher Farbe. Das Zwielicht erzittert, faltet sich zusammen, die einzelnen Schichten
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