40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
nein, ich hänge in einer Astgabel und fühle mich frei und leicht. Manchmal gibt es die großen Momente des Glücks. Aber dann schläft mein Hintern ein, und ich stürze fast auf den Boden. Glück und Unglück liegen manchmal nahe beieinander.
Während der Radtour habe ich fast das Gefühl, mehr Kraft in den Beinen zu haben als vorher. Kann das sein? In drei Tagen steht das nächste Belastungs-EKG an.
Das Schöne am Fasten ist, dass ich nichts aktiv machen muss. Der Körper macht alles von selbst. Ich muss nur die Zeit auf mich regnen lassen und abwarten.
Elfter Tag, 11. September
Versuche jemand die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen.
FRANZ KAFKA, Ein Hungerkünstler
Elfter Tag, 11. September
86,0 KILOGRAMM
Mein Körper fährt die Energie immer weiter runter. Ich bewege mich in Zeitlupe, Hektik geht gar nicht mehr, mein Ruhepuls liegt bei 50, und meine Reaktionsfähigkeit gleicht der eines Bären im Winter. Mein Gerippe spart. Meine Gedanken hinken. Mein Sein kriecht.
Gestern fragte mich ein Kollege, ob ich den ganzen Tag kiffen würde oder was los sei. Ich komme mir saumselig vor, schleppe mich nur schleichend über die Flure. Immerhin hat sich mein Fastenmarathon noch nicht überall herumgesprochen.
Ich beobachte Menschen beim Essen. Klammheimlich. Wie ein Spanner. Und auf einmal wird mir klar, was für ein Wunder es ist, dass unser Körper Käsebrötchen in Körpersubstanz verwandelt. Während dieser Eingebung glotze ich selbstvergessen und mit offenem Mund einen beleibten Best Ager in der Fußgängerzone an, der sich an einem Fast-Food-Tresen sättigt. Als er meine Blicke spürt, zieht er erstaunt das Kinn ein, sein Kopf knickt ganz leicht nach links weg, fast angewidert guckt er in meine Richtung und wendet sich dann von mir ab.
Ich bin beim Angeln. Seit Jahren mal wieder mit Haken und Wurm an einem See. Ganz allein in einem Ruderboot, nur ein paar Kilometer von unserem Hof entfernt. Der ortsansässige Fischer vermietet den Tages-Angelschein und ein Ruderboot für gerade mal zehn Euro.
Einen kleinen Fisch fange ich, werfe ihn zurück ins Wasser. Das war’s. Dabei soll es in dem See sogar Hechte und Welse geben. Ich bin ganz froh, keinen von ihnen gefangen zu haben. Es scheint mir plötzlich unmöglich, einen Fisch zu töten. Ihm einfach mit dem Stock eins über den Schädel zu ziehen und dann auszunehmen. Vielleicht hätte ich ihm mit einer .45er-Magnum den Kopf abschießen können.
Mitten in der Nacht wache ich auf. Der Geschmack in meinem Mund ist so ekelerregend, dass ich träume, man würde mich vergiften. Meine Zunge ist gelb-grün. Ich schrubbe sie mit einer Zungenbürste, bis sie wieder rosa ist. Zurück in meinem Zimmer schlägt mir der Geruch nach faulen Eiern entgegen. Mein Körper geht jetzt ans Eingemachte.
Zwölfter Tag, 12. September
Die Gewebe haben nämlich die Fähigkeit, nicht ausscheidbare Stoffe zu magazinieren, d. h. aufzuspeichern und dadurch vorläufig unschädlich zu machen. Diese Fremdstoffe werden nun durch den Fastenprozess aufgerüttelt und in die Säftebahnen gebracht.
DR. MED. GUSTAV RIEDLIN, Faste Dich rein und iß Dich gesund (1927)
Zwölfter Tag, 12. September
85,8 KILOGRAMM
Ich esse eine Scheibe billiges geschnittenes Aldi-Brot, belegt mit Käse. Schmeckt ganz normal. Sitze in der Küche mit Leuten aus meiner Studienzeit. Habe die Scheibe Brot halb aufgegessen, bis mir einfällt, dass ich ja faste. Ich renne aufs Klo, stecke mir die Finger in den Hals und würge und würge, bis ich aufwache.
Auf meiner Zunge der Geschmack nach verfaultem Käse.
Ich habe Albträume. Immer wieder dieses Mich-selbst-Erwischen, dieses »O Gott, ich darf nicht wieder anfangen«.
Offenbar geht es meinem Unterbewusstsein mit der Nahrungsaufnahme genauso. Da ist ein Verbot, das nicht übertreten werden darf. Meine Angst vor dem eigenen Wortbruch ist so stark, dass sie mich bis in meine Träume verfolgt.
Hinter meinen absurden 40 Tagen Fasten steckt der simple Wunsch nach Veränderung. Trendforscher Matthias Horx nennt diesen Wunsch ein Haupttopos der Moderne. Wir leben im Zeitalter des »Selfness«, das gekennzeichnet sei durch eine Selbstveränderungskultur. Nichts ist schlimmer als Stagnation, wer unflexibel ist, ist out!
Mich quält nicht, dass die Anzahl der mir verbleibenden Lebensjahre ständig schrumpft, sondern die Angst, diese Jahre belanglos zu verplempern.
Kann es sein, dass Männer im Allgemeinen früher sterben als
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