40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
Minuten.
Laut Statistischem Bundesamt sind 56 Prozent der Männer und 39 Prozent der Frauen in Deutschland übergewichtig. Das könnte daran liegen, dass jeder Deutsche jährlich im Schnitt 35 Kilogramm Zucker isst. Aber eigentlich möchte ich hier nicht fremde Statistiken bemühen. Wenn Sie zwei Hühnchen essen und ich keines, haben wir im Schnitt beide eins gegessen.
Telefongespräch mit Gabi. Sie ist traurig. Seit zwei Wochen leben wir jetzt schon im Ausnahmezustand. Sie sagt, wir hätten sonst immer schön am Wochenende zusammen gekocht, seien ausgegangen, ins Kino, hätten Waldspaziergänge gemacht. Und jetzt machten wir nichts mehr gemeinsam. Ich wäre einfach nur noch verschlossen, grantig und menschenfeindlich.
Sie weint. Und dann sei es alles auch noch künstlich, selbst herbeigeführt.
Ich weiß, dass sie recht hat, und versuche, es ihr noch mal zu erklären. Vom Verstand her ist das nicht zu begreifen. Ich weiß nur, ich muss dieses Experiment machen. Es ist für irgendetwas gut. Das weiß ich einfach.
Jetzt habe ich einen Kloß im Hals und bin mir selbst zu viel. Wenn Gabi mich verlässt? Dann komm ich mit.
Fünfzehnter Tag, 15. September
Der Hungertod ist wirklich keine angenehme Art des Ablebens. Im fortgeschrittenen Stadium, wenn der Körper anfängt, sich aufzuzehren, stellen sich Muskelschmerzen ein, Herzrhythmusstörungen, Haarausfall, Schwindel und Atemnot, ferner eine extreme Kälteempfindlichkeit und ein Zustand allgemeiner physischer und geistiger Erschöpfung. Die Haut verfärbt sich. Im Gehirn kommt es zu einem starken chemischen Ungleichgewicht, das Schüttelkrampf und Halluzinationen hervorruft. Etliche Menschen, die kurz vor dem Hungertod noch gerettet werden konnten, berichten jedoch, dass das Hungergefühl gegen Ende verschwindet. Der schreckliche Schmerz hört auf und macht einer großen Euphorie Platz, einer tiefen inneren Ruhe und einer geradezu übernatürlichen inneren Klarheit.
JON KRAKAUER, In die Wildnis 5
Fünfzehnter Tag, 15. September
83,6 KILOGRAMM
Eine Stimme sagt, ich solle noch warten, bis es hell ist. Aber die Pfirsiche sehen so verlockend aus. Sie hängen wie Beeren an einem Strauch. Im Hintergrund blättern Buchfinken im Laub. Ich esse einen Pfirsich nach dem anderen, aber sie zerfallen wie staubige Hohlpilze in meinem Mund. Ich wache auf, huste alten Staub aus und muss zum zweiten Mal in dieser Nacht pinkeln.
Aus lauter Langeweile schleiche ich durch die Stadt. Unverhofft begegne ich meinem großen Bruder, der für mich immer noch so etwas wie eine höhere moralische Instanz darstellt. Obwohl er das gar nicht sein möchte. Aus alten Familienstrukturen ist schwer auszubrechen.
Normalerweise gehen wir mindestens einmal pro Woche zusammen mittagessen. Aber er ist zurzeit zu überbeschäftigt und hat gar nicht gemerkt, dass wir uns schon seit zwei Wochen nicht gesehen haben. Daher weiß er nichts vom Fasten. Als er mich sieht, stellt er eine Veränderung fest: »Timm, du siehst ja aus wie Onkel Kurt.« (Onkel Kurt hat Wangenknochen, die hervorstehen wie zwei Henkel, an denen ein Riese Onkel Kurt hochheben könnte.) Ich erkläre meinem großen Bruder daraufhin, dass ich »am Fasten« sei. Wie lange? Zögern, ich gestehe. »40 Tage! Das kannst du nicht machen, Timm. Da kommt Mama nicht drüber hinweg.« – »Wo drüber?« – »Dass du stirbst.«
Ich verspreche ihm und allen, die mich gernhaben, dass ich bei Untergewicht, also 77 Kilogramm, aufhöre. Ich habe in 15 Tagen 10 Kilogramm abgenommen. Wenn das so weitergeht, ist in einer Woche Schluss mit Fasten. Vielleicht sollte ich die täglichen Radtouren nach Kiel und zurück jetzt sein lassen. Dabei fallen sie mir immer noch nicht schwer. Ganz im Gegenteil. Mein Körper scheint von Tag zu Tag fitter zu werden. Nur in den Armen spüre ich manchmal Kraftlosigkeit. Aber die Beine – wie ein Uhrwerk.
Mein Mitbewohner Michi erzählt mir von interessanten Tierversuchen mit Würmern. Es gibt ein wissenschaftliches Phänomen namens Phagozytose, bei dem die Zelle sich selbst auffrisst. Fastende Würmer, bei denen die Phagozytose nachgewiesen wurde, erreichen ein erheblich höheres Alter als ihre nicht fastenden Freunde. Mit einer am Fadenwurm Caenorhabditis elegans durchgeführten Extremdiät ist es Forschern gelungen, die Lebensspanne der Kriechtiere um das Achtfache zu verlängern.
Möchten Kriechtiere das?
Sechzehnter Tag, 16. September
Wenn die gebildeten Männer der Wissenschaft eines Zeitalters die Tatsache
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