40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
Musik habe ich keine Lust. Gabi hat Nachrichten – das bedeutet, sie ist von Montag bis Sonntag im Sender und kann mit diesem komischen Typen an ihrer Seite nichts anfangen.
Ich strotze vor Energie und weiß absolut nicht, wohin mit mir.
Nach zwei Stunden Rumlungern werde ich ganz zappelig. Ich muss raus, brauche Säfte, suche eine Erklärung für meine Unruhe. Fahre zu Aldi. Nach neun Tagen sind meine Sinne geschärft. Der Alltag wird immer merkwürdiger.
Nichts steht in den Aldi-Regalen, damit es uns gut geht oder weil es einer gut mit uns meint. Der einzige Zweck ist maximaler Profit. Die Waren sind scheinbar mängelfrei: unter »Schutzatmosphäre« verpackt inklusive Konservierungsmitteln. Dazu gibt es hübsche Bildchen und klein gedruckte Inhaltsangaben mit Sternchen. Das Fleisch sieht immer rosig aus. Man ahnt nicht im Geringsten, wie sehr die Tiere gelitten haben, wie viele Antibiotika in den Zellen stecken und, vor allem, wie ungesund das Ganze ist.
Dahinter stecken perverse Schweinemäster, ein unfassbarer Logistikaufwand an Herstellung, Lagerung, Vertrieb und so weiter. Es ist völlig egal, ob die Ware umweltfreundlich transportiert wird, Tiere leiden müssen oder Menschen davon auf Dauer todkrank werden. Es geht nur darum, dass möglichst viele Leute kaufen, kaufen, kaufen, kaufen, kaufen. Und das möglichst billig, damit sie denken, dass ihr Discounter ihnen etwas Gutes tut. Und weil sie so viel Geld gespart haben, gönnen sie sich noch drei Tafeln weiße Schokolade. Mir wird schlecht!
Wieder zu Hause führe ich ab. Erst Sauerkrautsaft, dann Duschschlauch. Es ist wirklich unglaublich, dass mein Darm immer noch nicht leer ist.
Mich überkommt Wut auf unsere Konsumgesellschaft, und ich surfe im Web: 30 Prozent unserer Nahrungsmittel landen im Müll, in den USA sind es sogar 40 Prozent. Ein Siebtel der Menschheit ist unterernährt. Zwei Milliarden haben keine ausreichende medizinische Versorgung. Eine Milliarde hat 4 keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Mehr als 200 Millionen Kinder sind Soldaten, Prostituierte, Wanderarbeiter oder Teppichknüpfer. Diese Fakten hat der Wissenschaftler Harald Welzer zusammengetragen. Er spricht von der »Ikearisierung« der Welt. Also der Verwandlung langlebiger Konsumgüter in kurzlebige. »Genau so aber soll es sein in einer Wachstumswirtschaft: Sie funktioniert nur, wenn sie über die Befriedigung der vitalen Bedürfnisse hinaus pausenlos neue Bedürfnisse erfindet und Verbraucher in dumpfe Befriediger von Wünschen verwandelt, von denen sie kurz zuvor noch gar nicht wussten, dass sie sie hatten.« Siehe iProdukte, dicke Geländelimousinen oder 3D-Kino.
Morgen habe ich zehn Tage gefastet. Damit ist zwar ein Ende noch lange nicht in Sicht. Aber das stört mich nicht im Geringsten. Es fehlt mir an nichts. Ich weiß, dass ich wehmütig sein werde, wenn das Fasten beendet ist. Wie immer, wenn ich mich durch etwas hindurchgequält habe. Auf Qual folgt Bewusstwerden.
Gestern sprach ich mit einer Freundin übers Fasten. Sie meinte, körperliche Entbehrungen nicht ertragen zu können. Seelische Schmerzen würden ihr nichts ausmachen, aber alles, was ihr physische Pein bereite, sei für sie der reinste Horror. Schon allein von Folter oder Ähnlichem zu hören ließe sie sich übergeben. Das ist bei mir anders. Mein Körper kann leiden. Qualvoll wird es für mich erst, wenn die Seele leidet: Liebeskummer, Streit mit engen Freunden oder Verwandten, beim Lügen erwischt zu werden. Das ist für mich schlimmer als ein Beinbruch. Und ich weiß, wovon ich rede, denn ich hatte schon 13 Gipse und habe mehr als 8123987234-mal gelogen.
Heute liegt ein durchweichter Brief in unserem löchrigen Holzbriefkasten. Ein langes Schreiben von meiner alten Freundin Elisabeth. Mit ihren 78 Jahren ist sie tatsächlich eine »alte« Freundin. Ich lernte sie vor Jahren auf einem sogenannten Clarity-Seminar für angewandte Psychologie kennen.
Damals befand ich mich in einer allgemeinen Krise: Ich hatte Liebeskummer, keinen richtigen Job und kein Ziel vor Augen. Die Mutter einer Freundin gab mir den Tipp zu diesem Seminar, es könne mir aus der Krise helfen. Tatsächlich tat es das auch. Ich erkannte, dass mein Liebeskummer und all das andere Leid nichts mit dem Hier und Jetzt zu tun hatten. Auch wenn das platt klingt – die Erkenntnis schlug damals wie ein Blitz bei mir ein. Alles, was sich nicht im Hier und Jetzt ereignet, ist Illusion, reine Vorstellung, tot. Diese Vorspiegelungen,
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