40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
Aufstehen fällt mir wahnsinnig schwer. Ich hatte heute schon auf den Energieschub gehofft, den ich aus früheren Fastenzeiten kenne. Aber er lässt auf sich warten. Vielleicht wirkt sich auch der Umstand, dass ich arbeite wie ein Brauereipferd an Karneval, nicht gerade förderlich auf meine Kraftreserven aus.
Zum Stichwort »Fasten« finden sich bei Google 5,5 Millionen Einträge. Für »Hungern« 1,7 Millionen: Die RAF-Häftlinge führten bis 1994 insgesamt zehn kollektive Hungerstreiks durch, an deren Folgen zwei Gefangene starben. Holger Meins war einer von ihnen. Er starb trotz künstlicher Ernährung am 9. November 1974 in der Justizvollzugsanstalt Wittlich nach 58 Tagen Hungerns. Am Ende wog er nur noch 39 Kilogramm bei einer Größe von 1,86 Metern. Diese Nachricht beweist nur, dass Fasten und Hungern auf keinen Fall dasselbe ist. Hungern geschieht erzwungenermaßen, als Reaktion auf eine äußerliche Gegebenheit. So ist auch der Hungerstreik zu betrachten. Dabei wird der einkalkulierte Tod als Druckmittel benutzt. Fasten hingegen findet immer freiwillig statt. Oder beruhige ich mich nur selbst, weil ich Angst habe, Holger Meins’ Schicksal zu teilen?
Wie nah dem Hungertod waren eigentlich Jesus, Buddha, Moses und ihre Freunde (ich werde mich einst dazuzählen dürfen) nach 40 Tagen? Und wie nah werde ich dann dem Hungertod sein?
Wieso schmeckt mir bloß kein Tee? Es gibt Zen-Mönche, die täglich eine Teezeremonie feiern und dann den Tee als Geschenk Gottes genießen. Vor Sonnenaufgang gießen sie einen stimulierenden Tee auf, singen leise ein Mantra über die Schöpfung dieser Welt und das unendliche Wunder des Lebens, hocken sich anschließend auf eine uralte Mauer und schweigen den Sonnenaufgang über dem Himalaja an.
Da ist es dann ja auch egal, wie der Tee schmeckt.
Ein Freund von mir mit dem klassischen deutschen Namen Gunther musste mal eine Reportage in Nepal drehen. Sein Kamerateam und er kamen in ein entlegenes Bergdorf, in dem bis dato bestimmt noch keine Fernsehcrew aufgeschlagen war. Das behauptete zumindest der Guide.
Mein Freund Gunther wurde als Anführer der Fremden in das Zelt der Dorfältesten eingeladen. Sie war älter als die durchschnittliche deutsche Eiche, hatte ebenso wenige Zähne, aber Falten, die der Rinde der Eiche Konkurrenz gemacht hätten. Die Alte lächelte scheel, Gunther lächelte gütig zurück und nahm dankbar einen dampfenden Tee an. Es war Yakbutter-Tee, im Geschmack vergleichbar mit ranzigem Pommes-Fett. Gunther trank. Dank deutscher Selbstdisziplin gelang es ihm zu lächeln und zu schweigen. Sonst hätte er gekotzt. Mittlerweile füllte sich das Zelt. Der halbe Clan war anwesend und beäugte den fremden Häuptling deutscher Nation. Irgendwie schaffte es Gunther, sein Glas zu leeren, und gestikulierte dann, pinkeln zu müssen. Er konnte gerade noch vor das Zelt stürzen, wo er sich in die nepalesische Steppe übergab.
Tränenden Auges schlappte er zurück ins Wigwam. Die Alte bat ihn großzügig, sich erneut zu setzen. Übelkeit. Und dann Entsetzen. Von hinten reichte man ihm den nächsten Yakbutter-Tee.
Die Freundlichkeit eines geschichtsbewussten Deutschen ist im Ausland schier unerschöpflich. Aber hier war eine Grenze erreicht. Würgend lehnte Gunther ab. Doch die Alte bestand darauf und prostete ihm sogar zu. Magensäure kam hoch, wurde aber heruntergeschluckt. Preußisch eben. Plötzlich brach die Alte in schepperndes Gelächter aus, bis der gesamte Clan einstimmte und sich vor Lachen bog. Das Yakfell-Wigwam wackelte, als würden die Götter gackern. Alle zeigten auf den Tee, taten, als müssten sie würgen, und schnitten dabei Gesichter wie einer, dem gerade die Eingeweide bei lebendigem Leib herausgeschnitten werden.
Meinem Freund traten Tränen in die Augen. Vom Kotzen, vor Erleichterung, vor Rührung und Demut.
Teetrinken im Himalaja. Wer einen Mythos durchschaut, kann mit ihm spielen. Wie bei allem.
Ich werde nach Ablauf dieser 40 Tage jeden Kaffee als Geschenk Gottes genießen.
Nach einer Entspannungsmeditation und einer warmen Dusche meldet sich der Hunger wieder. Zwei Tage hatte ich höchstens Appetit!
Das Fasten kommt mir gerade vor wie ein Traum. Alles ist so unwirklich. Ich kann nicht fassen, dass ich wieder faste, mich wieder quäle. Das Alltägliche langweilt mich einfach zu sehr. Hauptsache, nicht sein wie der Durchschnitt! Alles außerhalb ausgetretener Wege ist mir willkommen. Aber das nervt mich gerade selbst. Gabi hat auch schon
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