47 - Waldröschen 06 - Am Teich der Krokodile
daß er es keinem anderen sagen darf.“
„So muß man noch einmal versuchen, ob er nicht mit herüber kommt.“
„Er kommt nicht. Er behauptet, im Sterben zu liegen. Jede Bewegung und jede Berührung verursacht ihm so ungeheure Schmerzen, daß ein Transport herüber ganz unmöglich ist.“
„Nun so fahre ich hinüber“, erklärte der Lord. „Ich nehme eine bewaffnete Begleitung mit, so daß ich vollständig sicher bin.“
‚Geierschnabel‘ spuckte höchst ungeduldig aus.
„Wissen Sie, Mylord, wie viele Leute dort hinter den Bäumen versteckt sein können?“ fragte er.
„So gehe ich gar nicht an das Land. Ich kann ja vom Boot aus mit dem Manne sprechen.“
„Aber man kann Sie vom Wald aus mit einer Kugel töten.“
„Um Gottes willen, Papa bleibe da“, bat Amy.
Da stieß ‚Geierschnabel‘ ein kurzes, lustiges Lachen aus, hustete einige Male, spuckte in den Fluß hinab und sagte dann:
„Ah, Mylord, da kommt mir ein allerliebster Gedanke.“
„Welcher?“
„Ich selbst werde gehen.“
„Aber er wird ja Ihnen nichts sagen, da ich es bin, den er verlangt.“
„Pah! Ich werde mich für Sir Henry Lindsay ausgeben.“
Der Lord machte erst ein verwundertes Gesicht und sagte dann lachend:
„Sie scherzen, ‚Geierschnabel‘.“
„O nein. Es ist mein völliger Ernst. Der Kerl wird Sie doch nicht kennen?“
„Ich glaube nicht. Aber es wird ein Wagnis für Sie sein.“
„Ein Wagnis! O nein, es ist im Gegenteil ein Spaß, ein Gaudium für mich. Ich glaube, daß ich den Lord nicht übel spielen werde, kalkuliere ich.“
Er zog dabei eine äußerst spaßhafte Miene. Amy sah seine lange Nase, seine sehnige, ausgetrocknete Gestalt, seine bloße behaarte Brust, seine zerrissene, weit um ihn herumschlotternde Kleidung und sagte heiter:
„Ja, ich glaube auch, daß Sie ein außerordentlicher Lord sein würden.“
„Nun, an der nötigen Gravität sollte es nicht fehlen“, antwortete er. „Wir sind von ganz gleicher Länge, Mylord. Haben Sie nicht vielleicht einen Anzug, wie man ihn in London oder New York trägt, bei sich?“
„O, mehrere.“
„Zylinderhut?“
„Ja.“
„Handschuhe?“
„Natürlich.“
„Krawatte und Augenglas?“
„Auch.“
„Vielleicht auch einen Regenschirm?“
„Das versteht sich.“
„Nun, wollen Sie mir diese Kleinigkeiten nicht vielleicht einmal borgen?“
Diese Frage rief eine schnelle und heitere Verhandlung hervor, deren Resultat war, daß ‚Geierschnabel‘ als Lord Lindsay an das Land gehen solle.
Er begab sich mit dem Engländer nach dessen Kajüte und erschien in kurzer Zeit auf dem Verdeck, mit den erwähnten Kleidungsstücken angetan.
Amy machte Miene, in ein lautes Lachen auszubrechen, er aber gab ihr einen schnellen Wink und sagte in warnendem Ton:
„Still, Mylady! Das Lachen einer Dame dringt sehr weit. Man könnte es drüben am Ufer hören.“
„Aber man kann da doch nicht ernsthaft bleiben“, sagte sie, indem es ihr nur mit Mühe gelang, ihre Heiterkeit zu unterdrücken.
„Haben Sie keine Sorge. Die da drüben sollen sicherlich nicht über mich lachen.“
„Aber Sie sind unbewaffnet“, warnte Lindsay.
„Ich werde mein Messer und zwei Revolver zu mir stecken, das genügt.“
Er begab sich mit langen, wichtigen Schritten nach der Stelle, welche er für sich reserviert hatte und steckte die genannten Waffen in die Taschen.
Er bildete allerdings hier im Urwald eine höchst seltsame Figur. Ein Anzug von grauem Tuch, Gamaschen, Lackschuhe, grauer Zylinderhut, gelbe Handschuhe, Regenschirm und ein Zwicker auf der langen, ungeheuren Habichtnase gaben ihm ein Aussehen, welches selbst in einer großen, belebten Stadt, um wie viel mehr aber hier im höchsten Grade auffallen mußte.
Als er wieder zurückkehrte, meinte er:
„Es sind jetzt zwei Fälle möglich. Entweder der Kerl da drüben ist wirklich ein Bote von Juarez, oder die ganze Geschichte ist eine Falle, welche über Ihnen zuklappen soll.“
„Ich hoffe das erstere“, meinte der Lord.
„Und ich vermute das zweite“, behauptete der Jäger. „Haben Sie recht, so bin ich bald wieder hier. Bestätigt sich aber meine Ahnung, so weiß ich allerdings noch nicht genau, wie das alles enden wird.“
„Was hätten wir in diesem Fall zu tun, Master ‚Geierschnabel‘?“
„Sie hätten hier vor Anker liegen zu bleiben, bis ich wiederkomme.“
„Und wenn Sie nicht wiederkommen?“
„So warten Sie bis übermorgen früh und dampfen vorsichtig weiter. Sie werden
Weitere Kostenlose Bücher