5 1/2 Wochen
auf seinen zerbrechlichen Beinchen.
Wenn ich nicht wüsste, dass der Vogel flugunfähig ist, hätte ich vor Panik hysterisch schreiend den Raum verlassen und jemand müsste mich draußen einfangen, damit ich nicht bis Santiago durchrenne. Das ist eine echte Phobie bei mir, die mir schon oft überaus peinlich war. Das ist so unlogisch: Ich finde Vögel so wunderschön und beobachte sie sehr gerne bei der Futtersuche und ein bisschen neidisch, wenn sie durch die Lüfte gleiten. Ich höre ihnen fasziniert zu, wenn sie ihre Lieder trällern und frage mich, wie es möglich ist, dass ein kleiner Singvogel so einen Riesen-Klangkörper haben kann. Im Grunde meines Herzens liebe ich alle Vögel, große und kleine. Sie dürfen nur nicht auf mich zugeflattert kommen. Dann knallen mir die Sicherungen durch. So heftig, wie es sich niemand vorstellen kann. Ich gerate dann völlig außer Kontrolle.
Vor der Bar auf der überdachten Terrasse finden sich ein paar Bekannte der Vogelretterin ein. Sie verabschiedet sich von mir und bittet draußen um Hilfe. Sie öffnet ihre Hand und bevor die anderen genau wissen, worum es überhaupt geht, sehe ich, wie die junge Frau lachend ihren Kopf einzieht. Ihre Hände sind leer. Das Taschentuch liegt auf dem Tisch. Der Vogel hat sich in ihren langen Haaren verfangen und zappelt wild mit den Flügeln schlagend darin rum. Ein junger Mann kann das Baby schnell befreien und es flattert ohne einen Piep des Dankes fröhlich davon. Naja, wofür sollte sich das Vogelkind auch bedanken. Es wollte auf dem Waldweg, wo es entführt wurde, wahrscheinlich nur ein kurzes Nickerchen halten. Mir wird jedenfalls im Nachhinein noch ganz anders und ich bekomme einen Schweißausbruch. Wenn das Tierchen drinnen losgeflogen wäre, hätte ich ohrenbetäubend schrill gekreischt, der Vogel wäre einem Herzinfarkt erlegen und die hiesige Zeitung hätte für Morgen ihre Schlagzeile für das Titelblatt.
Auf den Schreck brauche ich noch einen Café con leche. Ich muss mich alleine wieder beruhigen. Meine Phobie bleibt mein Geheimnis, zumindest in dieser Bar in Boente. Gegen fünf mache ich mich an die letzten nassen zweieinhalb Kilometer dieser Etappe. Ich überlege, mir ein Paddelboot zu kaufen.
gleicher Tag (insgesamt 738,4 km gelaufen)
Castañeda (ca. 50 Einw.), ca. 400 m üdM, Provinz La Coruña
Hostal, Doppelzimmer, 30 € inklusive Frühstück
Am Ortseingang von Castañeda erblicke ich direkt eine Pension. Die Rettung vor den Fluten! Erleichtert schüttel ich mir das Wasser aus dem Poncho bevor ich das Lokal betrete. Als ich die Tür öffne, trifft mich fast der Schlag. Die Gaststätte ist gnadenlos überfüllt. Die meisten Leute tanzen zu lauter Musik. Ich kann kaum einen Schritt hineinsetzen, quetsche mich mit Ruddi unterm Poncho Stück für Stück durch die Menge. An der Theke frage ich schreiend - den Dezibels der Anlage trotzend - nach einem Zimmer. „Lo siento, wir sind ausgebucht. Das ist eine Hochzeitsfeier und alle bleiben über Nacht.“ Ich muss mal wieder völlig fertig und verzweifelt aussehen. Jedenfalls zwinkert mir ein junger Señor an der Theke - trotz meines quietschnassen Outfits inmitten der feinen Gesellschaft verständnisvoll lächelnd zu. Der Spanier bestellt mir was zu trinken und fragt, ob er helfen könne. „Buscando una habitación libre (ich suche ein freies Zimmer)!“ Er sieht mir interessiert zu, als ich den Reißverschluss meines Ponchos öffne. Ruddi ist angesichts des Lärms und den vielen ausgelassenen Leuten ziemlich zappelig vor meiner Brust. Mit seinen großen Augen im nassen Fell sieht er sich vorsichtig um und legt dann schutzsuchend seinen Kopf auf mein Dekolletee. Dem Señor geht sofort das Herz auf. Er ist außer sich vor Rührung und zögert nicht lange, um für mich bei einem befreundeten Hospitalero telefonisch ein Zimmer klarzumachen. Ich bin mal wieder tief beeindruckt, wie liebenswert und hilfsbereit das spanische Volk in jeder Lebenslage ist. Er erklärt mir den Weg, während ich mein Getränk genieße. Das Hostal liegt etwas außerhalb von Castañeda, direkt an der Nationalstraße.
So kommt es, dass ich parallel zum Camino am linken Rand der Nationalstraße im nicht enden wollenden Regen unterwegs bin. Weit vor mir sehe ich etwas auf dem Randstreifen liegen. Das könnte ein schwarzer Mantel sein oder eine leere Tasche. Als ich näher komme, stelle ich entsetzt fest, dass es ein großer toter Hund ist. So, wie er aussieht, wurde er erst vor ganz kurzer Zeit
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