5 1/2 Wochen
dem Weg geräumt wird. Ich rufe ein zwar abgekämpftes, dennoch fröhliches „Buen camino“ hinter ihnen her - möchte sie zur Besinnung bringen - aber sie hören mich nicht oder können nichts mit meinem Gruß anfangen. Vielleicht halten sie das auch für eine Beleidigung. Ich tu es ungern, aber ich gebe zu: Es fällt mir echt schwer, die Ambitionen dieser Pilger zu erkennen.
In Melide mit seinen über 8000 Einwohnern mache ich eine lange Pause in einer Bar. Ich hoffe, wie die vielen anderen Pilgern auch, dass der Regen zumindest ein bisschen nachlässt. Die Stimmung ist explosiv. Es ist sehr laut. Die Gespräche, denen ich lausche, haben nichts mehr mit dem zu tun, wie ich es in den letzten Wochen erlebt habe. Sie erzählen von familiären Problemen, von ihren Schwierigkeiten im Beruf und den neuesten politischen Nachrichten, die sie mitgebrachten Zeitungen entnehmen. Viel zu viele Frauen fühlen sich nicht schick genug, jammern über ihre nassen Haare und ihr durch den Regen verlaufenes Makeup.
Am liebsten würde ich ein „Ist Euch das nicht zu anstrengend?“ beherzt in den Raum werfen. Aber ich bin davon überzeugt, dass keiner dieser Pilger wüsste, wovon ich überhaupt rede. Ich fühle mich einsam. Selbst in den Bars finde ich keine Pilger mehr, mit denen ich mich wirklich austauschen kann.
Richtung Boente geht es weiter durch die dichten, wohl duftenden Wälder. Im Augenblick kommt kein Wasser vom Himmel. Der Wind hat deutlich nachgelassen. Auf einem geländerlosen schmalen Steg über einen kleinen Bach sitzt ein junges Pärchen. Beide halten ihre nackten Füße in das kalte Wasser und genießen es sichtlich. Sie sprechen mich an, fragen, wie es mir geht und ob mir nicht auch die Füße höllisch wehtun, vom anstrengenden, verkrampften Laufen. „Ja, sie schmerzen. Aber ich würde sie auf keinen Fall ins Wasser halten. Die Haut wird weich und die Gefahr, sich Blasen zu laufen, ist dann viel größer.“ Die zwei sind zwar anderer Meinung, entschließen sich aber doch, die Schuhe wieder anzuziehen und ein Stückchen mit mir zusammen zu laufen.
Die beiden hat mir der Himmel geschickt. Sie sind seit 200 Kilometern unterwegs und richtig gut drauf. Wir unterhalten uns angeregt. Jeder interessiert sich für den anderen. Anekdoten kommen zur Sprache, die uns vor Lachen die Tränen in die Augen treiben. Es ist herrlich. Und plötzlich, als wenn einer oben im Baum säße und nur darauf gewartet hat, uns nass zu machen, öffnet Petrus wieder seine Schleusen. Dieses Mal so gewaltig, dass wir uns vor Schreck wie die Kinder an die Hände nehmen und unter einen großen niedrigen Baum flüchten. Ich habe meinen Poncho schnell im Griff, aber die beiden waren völlig arglos und müssen ihren Regenschutz, den sie eben erst weggepackt haben, wieder aus dem Rucksack kramen. Zum Glück ist nicht viel Wind. Obwohl wir bestimmt vor Lachen in die Hosen gemacht hätten, wenn sie den Einstieg in ihre Ponchos nicht gefunden hätten.
Nach ein oder zwei Kilometern geht wieder jeder in seinem eigenen Tempo den Jakobsweg. „Buen camino!“ Diesmal bekomme ich einen herzlichen Gegengruß. In Boente angekommen, läuft mir das Wasser aus der klitschnassen Hose in meine Schuhe. Ich weiß nun, warum ich heute Morgen so früh losgegangen bin. Ich habe nämlich jetzt lediglich noch zweieinhalb Kilometer vor mir und kann den heftigen Regen, gemütlich in einer Bar sitzend, vorüberziehen lassen.
Ich habe gerade meinen heißen Café con leche vor mir stehen, als ganz aufgeregt eine junge Japanerin den Raum betritt. Sie hält ihre Hände zu einer Kugel geformt schützend über ein winziges Kohlmeisen-Baby. Auf Englisch flüstert sie fassungslos: „Es kann nicht mehr fliegen. Ich habe es im Wald aufgesammelt. Was soll ich denn jetzt machen? Jemand muss dem Vogel helfen! Bitte!“ Der holländische Wirt antwortet darauf viel zu lässig: „Setz ihn draußen vor die Tür. Der ist gerade einfach nur völlig geschockt, weil er in Deiner Hand gefangen ist. Du hättest ihn gar nicht aufheben dürfen. Glaub mir, dem fehlt nichts!“ Entsetzt über so viel Herzlosigkeit wendet sich die junge Frau an mich. Sie lehnt sich über den Tisch und öffnet ihre Hand. Ich bin tief berührt. So ein kleines Häufchen Elend habe ich noch nie gesehen. Sie hat es fürsorglich auf ein weiches Taschentuch gelegt. Das Vögelchen guckt ganz aufgeregt von einem zum anderen, gibt leise Töne von sich und rappelt sich nach ein paar Minuten sogar auf, steht zitternd
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