5 1/2 Wochen
die Morgen, egal wo ich übernachten werde, nicht gibt! Diese Pension hat meiner Meinung nach mindestens fünf Sterne verdient.
Mit jedem Glas Wein wird mein Mitteilungsbedürfnis größer. Das ist der Pilger-Austausch-Entzug der letzten Tage! Ich habe aber auch wirklich interessierte Zuhörer. Sie wollen ALLES wissen. Wo soll ich da anfangen und wo kann ich aufhören? Ich könnte ein Buch darüber schreiben! Erzählen kann ich nur ausgesuchte Erlebnisse - irgendwann muss der Abend schließlich ein Ende finden. Die beiden bedauern sehr, dass sie keine Zeit dafür haben, den gesamten Camino Francés zu laufen. Sie merken übrigens erst nach dem Essen, vor dem Gassi-Gehen, dass Ruddi die ganze Zeit mit am Tisch war. Ja, so haben sich ein paar meiner Geschichten über „Ruddi inkognito“, die meine Zuhörer als „unglaublich“ beurteilten, bewiesen.
Es ist die drittletzte Nacht auf meinem Camino. Ich kann es gar nicht fassen. Und das meine ich im wahrsten Sinne des Wortes. Wie werden die beiden letzten Etappen sich anfühlen? Ich finde noch nicht einmal annähernd eine Antwort darauf. Wieso wundert mich das nicht? Pilgern ist unberechenbar und unplanbar, außer man hetzt sich ab und vergisst sich selbst dabei. Kurz vor dem Einschlafen wird mir richtig bewusst, dass ich es wohl schaffen werde, pünktlich und gemütlich in Santiago de Compostela anzukommen. Höchstwahrscheinlich finde ich sogar einen ganzen Tag Zeit, um an das Ende der Welt zu fahren, zum Kap Finisterre.
Montag, 19. Mai 2008
Castañeda (ca. 50 Einw.), ca. 400 m üdM, Provinz La Coruña
35. Etappe bis Rúa, 24,2 km
Obwohl ich mit offenem Fenster direkt an der Nationalstraße übernachtet habe, war es erstaunlich ruhig. Im dösigen Zustand brauche ich einen Moment, um die Wochentage zu sortieren. Klar! Heute ist Montag. Deswegen sind gestern Abend nur wenige Autos vorbeigerauscht und ich konnte außergewöhnlich fest schlafen. Ich bin mir noch gar nicht sicher, ob ich mein schönes Zimmer und warmes Bett schon verlassen will. Freu ich mich darüber, dass ich das vorletzte Mal eine Tagesetappe auf dem Jakobsweg antrete? Wie sieht Ruddi das eigentlich? Sicher ist, dass ich meine Familie sehr vermisse. Kann ich ab Samstag wieder ganz normal meiner Arbeit in der Sportredaktion nachgehen? Ich werde es erleben, wie es sich ohne Rucksack auf dem Rücken anfühlt.
Das erste, was ich wahrnehme, ist, dass die Sonne scheint. Welch seltener Anblick in Galicien! Ein Blick aus dem weit geöffneten Fenster versetzt mich regelrecht in Euphorie. Der Himmel ist strahlend blau, mit wenigen schneeweißen Wolken. Es ist ein malerischer, vielversprechender Morgen. Ich muss weg! Katzenwäsche, Anziehen, Ruddi’s Frühstück hinstellen, Handy und Reiseführer in das obere Rucksackfach legen, Wasserflasche ins Außennetz stellen, Regenponcho ins separate untere Rucksackfach legen, Perritos Bett einpacken, Wassernapf füllen und in das Notfallnetz stecken, Schuhe anziehen, Feierabend-Sandalen zuunterst einpacken, Wäsche drauf... Vollbremsung! Moment mal, wo ist denn meine Wäsche? Ach ja! Die hatte ja einen Wellness-Abend mit allem Drum und Dran bei der Vermieterin! Dass das die ganze Nacht geht, war mir nicht klar. Mein Kopfkino hat geöffnet: Hoffentlich ist die Señora zuhause und nicht beim Großeinkauf. Wer weiß, wann sie zurückkommt! Jetzt steck ich hier fest! Das fand ich doof. Ich muss weg! Die Sonne scheint! Und ich habe keine Ahnung, wie lange das anhält.
Bevor mir meine Fantasie ein Schnippchen schlägt, mach ich mich lieber auf die Suche nach der Frau oder meiner Wäsche. Aufgeregt steige ich die breite Treppe hinunter. Alles still hier unten. Die Eingangs- und Terrassentüren sind fest verschlossen. Ich werfe vorsichtig einen Blick in die Küche. Gott sei Dank! Ihr Mann sitzt gemütlich bei einer Tasse Kaffee über der Tageszeitung. Es dauert eine Weile, bis er versteht, was ich überhaupt von ihm will. Der Señor hat jedoch keine Ahnung, wo seine Frau meine Wäsche hingelegt haben könnte. Er weiß noch nicht mal, wo seine Frau ist. Na super! Bedröppelt will ich Ruddi runterholen und zunächst einmal Frühstücken. Selbstgespräch: „Ja, ich weiß! Ist doch eigentlich gar nicht so schlimm! Mir ist es aber lieber, wenn ich nach dem Frühstück sofort und ohne Umwege meine Etappe beginnen kann.... Ja! Ist ja gut, ich bin flexibel und geschmeidig!“ Ganz langsam beruhige ich mich wieder, gebe mich der Situation hin. Und siehe da! Auf einem Stuhl
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