5 1/2 Wochen
vorgestellt. Ich bin nicht in der Lage, auch nur einen Moment zur Besinnung zu kommen.
In der Sekunde, wo ich beschließe, im Restaurant einen Kaffee trinken zu gehen und es später noch einmal zu versuchen, bricht das Unwetter los, das sich schon seit zwei Stunden angekündigt hat. Es stürmt gewaltig, Hagel prasselt auf den Felsen nieder und alle, wirklich alle, flüchten innerhalb kürzester Zeit ins Trockene. Ich bin die Einzige, die es sich genau jetzt hier draußen „gemütlich“ macht. Den Poncho hatte ich schon über dem Rucksack auf meinem Rücken liegen. Ich setze mich auf einen großen Felsblock, nehme Ruddi unter meinem Poncho auf den Schoß, klemm den Saum unter die Oberschenkel und den Hintern und lasse mich von dem Orkan regelrecht durchschütteln. Den Hagel spüre ich gar nicht.
Ich bin eins mit dem Fels. Nichts könnte mich hier wegholen, geschweige denn, wegpusten. Ich genieße regelrecht die tobende Natur. Monatelang habe ich davon geträumt und es gefühlt, ganz alleine auf diesem Felsen zu sitzen. Ich schau mich um, kann es kaum glauben. Es ist wirklich niemand da. Nur ich - und Ruddi. Endlich bin ich angekommen. Ich hatte keine Ahnung, wie macht- und wertvoll ein Orkan auf einem ungeschützten 143 Meter hohen Felsen sein kann.
Er rupft und rüttelt ohne Unterlass an mir rum. Ich erlebe diese Naturgewalten als unbezahlbares Geschenk. Sie schütteln mich aus, wie einen Sack, den man von alten Krümeln befreien will. Ich bin vollkommen leer. Es ist eine höchst angenehme, nie erfahrene Leere, die mir sagen möchte: „Nun kannst Du Dich mit allem auffüllen, das Dir guttut: Frieden, Freude, Glück, Harmonie, Gesundheit, Erfolg, Liebe, Zufriedenheit, Gelassenheit, Zuversicht, Mut und Hoffnung.“
Wenn ich mich mal wieder zu beladen fühle, will ich mich an diese Erfahrung erinnern. Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon sitze. Das Unwetter ist weitergezogen und ganz langsam öffnet sich die Wolkendecke. Es wird heller - genau wie in mir drin. Als die Sonne rauskommt, hab ich sie im Herzen. Während ich auf den Ozean blicke, wird mir klar, wie großartig und weit meine Möglichkeiten sind. Erst auf diesem Felsen kann ich aus voller Überzeugung rufen:
Nachwort
Ruddi fiel keiner Menschenseele im Bus nach Fisterra auf.
Am Abreisetag - Donnerstag, den 22. Mai 2008 - lief ich durch Santiago de Compostela und ließ noch einige Male mit meinem heißgeliebten Café con leche die Stimmung in den kleinen Bars auf mich wirken - natürlich mit all meinem Hab und Gut. Ohne Rucksack konnte ich erst in Deutschland wieder laufen.
Auf der Plaza de Obradoiro lag die schwarze Hündin auf dem gleichen Platz, wie vorgestern, als ich mich davonschlich. Im ersten Moment zerriss es mir das Herz, aber letztendlich war ich mir sicher, dass auch sie nicht gezwungenenermaßen alleine war. Sie hatte garantiert in der Zwischenzeit fürsorglich einen weiteren Pilger nach Santiago geführt.
Der Rückflug ging um 17 Uhr von Labacolla über Mallorca nach Düsseldorf. Meine Kinder holten mich nachts um 23.30 Uhr vom Flughafen ab. Sie erkannten mich kaum wieder. Ich sehnte mich so sehr danach, von ihnen in den Armen gehalten zu werden. Ich glaube, dass Astronauten sich nach einer Reise zum Mond so fühlen müssen, wenn sie ihre Lieben wieder in die Arme schließen dürfen. Als wir in Dormagen das Gepäck aus dem Kofferraum genommen hatten, sprangen auf der anderen Straßenseite zu meiner Überraschung meine fast 80-jährigen Eltern aus dem Gebüsch. Ich konnte es kaum glauben, dass sie mitten in der Nacht extra aus Sinnersdorf kamen, um mich zu empfangen. Das war eine Wiedersehensfreude mit viel Hallo, an denen auch die Nachbarn hinter ihren Fenstern teilhaben durften. Bis morgens um zwei tranken wir Sekt und aßen eine komplette - frisch aus Spanien eingeflogene - Santiago-Torte.
Ich nahm zwei Kleidergrößen ab. Ich musste schon während des Pilgerns in den letzten zehn Tagen eine Kordel durch die Gürtelschlaufen meiner Hose ziehen, damit sie mir nicht runterrutschte.
Ruddi geht nach wie vor gerne Gassi. Er trägt seine metallene Jakobsmuschel stolz an seinem Halsband und wird deswegen oft bewundert. Er ist und bleibt für immer mein kleiner Santiago-Hund. Ich danke ihm aus tiefstem Herzen für sein Durchhaltevermögen, die Geduld, mit mir durch Dick und Dünn zu gehen und für seinen Instinkt dafür, wann er dringend die Klappe zu halten hatte, damit wir nicht auf der Straße schlafen mussten.
Achim aus
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