5 1/2 Wochen
drauf los. Der Himmel verspricht uns einen wunderschönen Tag. Es ist sehr warm, aber die Sonne scheint nur abgeschwächt durch eine dünne Wolkendecke. Perfekt! Über gute Landwirtschaftswege wandern wir durch die Rioja, ein international renommiertes Weinbaugebiet. Ich muss immer wieder an meinen Vater denken, weil er so gerne ein gutes Glas Rotwein trinkt. Nach elf Tagen ohne den üblichen Kontakt zur Familie habe ich manchmal ein bisschen Heimweh und fühle ich mich durch den Anblick dieser Felder meinen Eltern sehr nah. Sie würden diese Landschaft auch genießen. Beeindruckend, wie intensiv Gedanken das Gefühl für Raum und Zeit beeinflussen. Ich weiß natürlich, dass das immer so ist, aber das Bewusstsein dafür fehlt oft im Alltagsleben oder es gerät in Vergessenheit, dass Gefühle, Gedanken, Taten und Worte unser Leben und Wohlbefinden bestimmen.
Aus meinem Reiseführer wusste ich bereits, dass wir vor Cirueña einen Golfplatz und die dazugehörige neu errichtete Siedlung umlaufen müssen. Ich weiß gar nicht warum, aber dieses Stück Camino zieht sich wie Kaugummi. Wieso wundert es mich eigentlich? Ich habe immerhin schon fast zehn gelaufene Kilometer bezwungen. Es ist keine Bar in Sicht - ich brauche doch so dringend eine. Die Golfplatz-Lokalität ist geschlossen.
In Cirueña mit seinen knapp 130 Einwohnern angekommen, erhoffe ich mir den wohlverdienten Café con leche und mittlerweile genauso sehnsüchtig ein weiteres frisches Croissant. Es soll nicht sein. Na dann, auf geht’s nach Santo Domingo de la Calzada. Es wird ja wohl unter 5600 Einwohnern einen geben, der eine Bar betreibt.
Kurz nachdem ich Cirueña verlassen habe finde ich einen schattigen Platz, der zum Ausruhen einlädt. Ruddi und ich setzen uns vor dem alten Gemäuer, das vielleicht mal eine Fabrik war, an den Wegrand. Wir trinken Wasser und genießen die kurze Pause. Da kommt Pia, die mit Sören unterwegs ist, setzt sich zu uns und erzählt mir ein bisschen von sich. Ihr Mann ist vor kurzem verstorben und sie ist auf dem Jakobsweg, um damit klar zu kommen. Normalerweise spricht sie nicht darüber, aber in diesem Moment muss es wohl sein. Ich nehme sie in den Arm und lasse mich auf ihren Schmerz ein. Ich verstehe: Deswegen ist sie meistens lieber alleine und -obwohl sie sehr gerne lacht - manchmal plötzlich traurig. Mir wird wiedermal klar, dass jeder Mensch sein Päckchen zu tragen hat und man dem anderen immer nur vor die Stirn gucken kann und nicht dahinter. Nach einiger Zeit mache ich mich wieder auf den Weg. Sie bleibt noch ein bisschen sitzen, möchte auch jetzt für sich sein. „Wir sehen uns!“ sagt sie.
Es sind noch fünf Kilometer bis nach Santo Domingo de la Calzada. Wir gehen immer weiter über sehr angenehme Landwirtschaftswege. Von einem Hügel aus kann ich die Stadt schon sehen, aber es dauert noch gute 40 Minuten bis wir sie erreicht haben. Ich genieße die Aussicht und drehe mich noch einmal langsam im Kreis. Dieses Zeitlupen-im-Kreis-drehen mache ich in unregelmäßigen Abständen. Wie bereits erwähnt kommt der Pilger nicht wieder zurück, wie bei einem Ausflug, sondern geht stetig insgesamt fast 800 Kilometer Richtung Westen. Da gilt das Motto: Jetzt oder nie hingucken. Manchmal, eher selten entdecke ich auch einen herannahenden Pilger. Es ist und bleibt allerdings ein Phänomen, dass während des Laufens in freier Natur kilometerweit niemand zu sehen ist (ich staune immer noch beim Anblick meiner Fotos) und kaum betritt man eine Bar, befinden sich dort zu 98 Prozent Rucksäcke mit ihren dazugehörigen Trägern.
Diesmal entdecke ich tatsächlich Pia. Dann hat sie gar nicht mehr so lange an der Fabrik gesessen. Wir lächeln uns an und ich lasse sie Vorbeigehen. Als sie weit genug entfernt ist, um sich alleine fühlen zu können, setze ich mich auch wieder in Bewegung.
Geschafft! Gegen 15 Uhr sind wir in Santo Domingo. Ich bin ganz damit beschäftigt die herrliche Altstadt zu bewundern, als jemand meinen Namen ruft. Ich bleibe stehen, hebe meinen Kopf und blicke geradeaus in eine weit geöffnete Bar, in der die Leute sitzen, die mich anscheinend kennen. Von jetzt auf gleich wieder topfit eile ich hinein.
Zu meiner großen Freude handelt es sich um Edit, Sabrina, Achim, Oliver, Sören und Pia. Die Stimmung ist grandios.
Ruddi und ich werden empfangen als wären wir Megastars. Sieben Menschen finden Platz an einem Zweiertisch. Zwischen den Stühlen stehen die Rucksäcke und vor dem meinigen liegt Ruddi auf
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