5 1/2 Wochen
Zumutung und lehne entschieden ab. Er ist beleidigt und sagt: „Dann nicht, dann schmeiß ich die eben weg.“ Ich höre wohl nicht richtig und glaube, er macht einen Witz. Weit gefehlt. Er bleibt todernst bei seiner Aussage. Naja, ist mir doch wurscht, oder?! Muss ich nicht verstehen! Ich sage hier in dieser Box nichts dazu, denn jeder in den umliegenden Ställen kann sogar geflüsterte Worte - selbst einen tiefen Atemzug - des anderen wahrnehmen. Ich fühle mich plötzlich wie eine Gefangene, kann nicht mehr durchatmen. Als mir das klar wird, weiß ich, dass das heute wahrscheinlich unser letzter gemeinsamer Abend sein wird. Ich muss jetzt sofort hier raus, zu Mary, Lynn und Ruddi.
Nach ungefähr 20 Minuten bin ich wieder zurück bei meinen Lieben. Ich bin den Frauen dankbar, dass sie so lange auf mich gewartet und Ruddi beaufsichtigt haben. Ihm geht es wieder viel besser. Wir unterhalten uns sehr angeregt über die Erlebnisse der letzten Tage, als Hermann erscheint und sofort mit mir zum Essen gehen will. Ich lehne das ab: „Ich komme gleich. Wir unterhalten uns, das siehst Du doch. Komm zu uns oder geh! Ich bleibe noch ein paar Minuten.“ Beleidigt zieht er ab mit den Worten: „Ich brauch jetzt ein Bier.“ Gesagt - getan - weg ist er. „Laufen lassen.“ denke ich. Mary und Lynn wundern sich erneut über sein Benehmen. Er sei vor meiner Ankunft ganz anders gewesen. Locker, fröhlich und unterhaltsam habe er mit ihnen in der Bar etwas getrunken. Es bleibt sein Geheimnis, warum er so nicht mit uns dreien umgehen kann. Schade!
Nach einiger Zeit verabschieden sich die beiden von mir. Sie wollen ebenfalls nur noch schlafen und außerdem morgen relativ früh los. Ich bleibe alleine mit Ruddi auf der Bank sitzen und versuche runterzukommen. Nach ein oder zwei Minuten steht Hermann vor mir. Gut gelaunt bittet er mich erneut, mit ihm gemeinsam zum Essen zu gehen. Wir gehen in das nächste Restaurant. Drei Tische sind besetzt. Als unsere Getränke vor uns stehen, spreche ich ihn an: „Was ist mit Dir los? Ich möchte Dich bitten, mich nicht immer so zu hetzen. Das tut mir nicht gut. Ich bin hier, um jede Situation, die sich mir bietet, bewusst auszuleben. Du benimmst Dich mir und den anderen gegenüber so merkwürdig, dass es allen unangenehm ist. Wir müssen das ändern.“ Ich erkläre ihm die Vorfälle der letzten Stunden aus meiner Sicht. Er ist entsetzt: „Wenn wir jetzt schon Probleme haben, wie soll das denn dann noch werden?“ Bitte? Wie soll ich darauf reagieren? „Bleib ruhig“, meldet sich meine innere Stimme. Mit dem Bewusstsein, dass ich ab morgen durchaus auch ohne ihn weitermachen kann, antworte ich: „Wir sind wohl doch zu unterschiedlich. Sei mir bitte nicht böse. Versuche mich auch zu verstehen. Wir haben in den ersten Tagen so viel Spaß zusammen gehabt. Was ist passiert! Wo ist Dein Humor?“ Alles was ihm einfällt ist: „Okay, ich bin Dir nicht böse. Ist schon gut.“ Den Rest des Abends verbringen wir mehr oder weniger schweigend. Das Essen ist schnell im leeren Magen. Wir können es wohl beide kaum noch erwarten, hier raus zu kommen. Wir haben uns nichts mehr zu sagen.
Im Herbergshof sitzen immer noch viele Pilger zusammen. Edit, Sabrina, Achim, Oliver und Sören haben einen Riesenspaß. Ich kann heute leider nicht mitmachen, weil Ruddi ja auf keinen Fall entdeckt werden darf. Also trotte ich mit Hermann unbemerkt an den anderen vorbei. Hermann liegt innerhalb von Sekunden in seiner Koje. Ich melde mich zum Duschen ab. Er nimmt sich Ruddi aus der Tasche und in sein Bett. So hätte er ihn besser im Griff, falls er bellen wolle, wenn jemand an unserer „Tür“ vorbeigeht. Wahrscheinlich hat er damit Recht.
Das Badezimmer ist schneeweiß, modern und sauber. Es gibt vier oder fünf Duschkabinen, ebenfalls mit Schwingtüren. Zu so später Stunde bin ich hier fast alleine. Es ist das erste Mal, dass ich mich in einer Herberge ausziehe. Heute habe ich nicht das Gefühl, dass ich von jetzt auf gleich flüchten muss. Da ich immer noch nicht der Mensch bin, der nackt vor wildfremden Menschen herumspringt, lege ich meine Kleider erst in der Duschkabine ab. Dafür ist die aber gar nicht gebaut. Es ist ein Puzzlespiel, die Sachen absturzsicher auf der Schwingtür zu deponieren, ohne dass sie während des Duschens nass werden. Auch das Abtrocknen auf einem Quadratmeter mit einer nachtropfenden Dusche im Nacken stellt sich als hochkompliziert heraus. Da ich bekanntlich keine Nachtwäsche dabei
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