5 1/2 Wochen
Lebenslust legen die meisten Pilger an den Tag. Gedanken sind Energie. Wer steckt hier wohl wen an? Die Pilger die ansässigen Spanier oder umgekehrt? Egal, es zeigt mir eindeutig, dass es funktioniert. Die vorherrschende positive Energie lässt jeden, der es nur will, ruck zuck aus einer miesen Stimmung - die durchaus auch mal erlaubt ist - wieder aussteigen.
Das ist der richtige Moment, eine Pause auf der Ruddi-Decke zu machen und neue Energie zu tanken. Einige mir unbekannte Pilger kommen an uns vorbei und beklagen sich über die letzten drei Wald-Autobahn-Kilometer. Aber was nützt all das Klagen, es ist vorbei und jetzt gilt es, den Wald zu genießen. Ab hier werden wir tausendfach für das Erlebte entschädigt. So idyllisch und erholsam kann es bis Santiago weitergehen.
In San Juan de Ortega gibt es eine Bar. Nach zwölf Kilometern eine Oase, und somit ist das Lokal gnadenlos überfüllt. Drinnen und draußen sitzen zig Pilger. Ich finde tatsächlich im Schankraum noch einen kleinen freien Tisch und gebe mich zufrieden bei einem Wohlverdienten Café con leche den Gegebenheiten hin. Nach einigem beobachten und Hinhören stellt sich heraus, dass ich mich direkt neben einer Herberge befinde, die wohl vollkommen überfüllt sein muss. Einige Pilger schimpfen lautstark darüber, dass sie weiterziehen müssen. Aus diesem Chaos heraus, entsteht die Idee einiger Spanier die nörgelnden Läufer mit ihren Autos zur nächsten Herberge zu fahren. Ein Pilger nach dem anderen verschwindet auf diese Art und Weise. Viele Rucksäcke fliegen in Kofferräume, Autotüren knallen ins Schloss und mit aufheulenden Motoren brausen sie davon. Was soll ich dazu sagen? So geht es natürlich auch! Ich verstehe die Aufregung nicht, denn es ist erst früher Nachmittag und der nächste Ort nur knappe vier Kilometer entfernt. Na ja, jedem das Seine. Und wer weiß: Vielleicht gibt es ja einen netten Bruder, der sie morgenfrüh wieder an genau diese Stelle fährt! In der Bar herrscht nun jedenfalls eine wesentlich entspanntere Atmosphäre als vor wenigen Minuten.
Für heute liegen noch knappe sieben Kilometer vor mir und ich schnüre mein Bündel. Der Camino führt mich weiterhin durch den zauberhaften Wald. Die Sonne scheint, aber mein Hund und ich genießen den Schatten der Bäume. Ruddi läuft fröhlich pfeifend mal vor, mal hinter mir und findet den Tag genauso toll wie ich. Da sich hier kaum Stolperfallen befinden, erlaube ich mir endlich mal, unkonzentriert und in Gedanken versunken, zu gehen. So muss sich ein Automotor fühlen, wenn er im Leerlauf langsam einen Berg hinunterrollt. Herrlich! Wie gut das unbekümmerte Gehen tut! Ich fühle mich wie in Trance.
Plötzlich ein Riesenschreck! Etwas hat meine Wade berührt. Ich traue mich nicht, mich umzudrehen. Wer oder was wagt es mitten im Wald, einfach und ohne Vorwarnung so nah an mich heranzukommen? Ich bin mir sicher, dass das hinter mir kein Mensch ist. Gibt es hier Wildschweine oder gar Bären? Oh Gott, steh mir bei! Bevor ich mich umdrehe, um zu reagieren, gehe ich noch einige Schritte betont „lässig“ und im gleichen Tempo weiter, um mich zu sammeln und eine Taktik zu entwickeln, wie ich mich dem „Feind“ stellen kann. Meine Knie sind butterweich. Kurz bevor ich in die befürchtete Ohnmacht falle, läuft ein Hund an mir vorbei und direkt dahinter - mit der Nase an dem Hintern des Neuen - mein eigener.
Mir fällt ein Stein vom Herzen und ich bleibe erst einmal stehen, um mich zu entspannen und zu beruhigen. Seit wann begleitet der uns denn schon? Das ist ja ein Ding! Der könnte sich mir zumindest mal kurz vorstellen. Was sind denn das für Manieren? Die beiden Vierbeiner verstehen sich auf jeden Fall super. Na gut, dann will ich Ruddi’s aussagekräftigem Blick „was denn? Nun komm schon, oder willst Du hier Wurzeln schlagen“ mal nachgeben. Dann gehen wir eben zu dritt ein Stück durch den Wald. Der Neue wird hoffentlich wissen, was er da tut. Der hat auf jeden Fall ein zu Hause, der ist so wohlgenährt.
Nach gut einer Stunde erreichen wir tatsächlich immer noch in fremdtierischer Begleitung Agés. Im Ort finde ich zu meiner Freude ein liebevoll gestaltetes Schild mit dem Hinweis, dass es bis Santiago lediglich 518 Kilometer sind. Na, wer sagt’s denn? Dann hammer’s doch bald! Aber jetzt brauche ich zunächst einmal meinen heiß geliebten Café con leche. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt machen soll. Das gibt doch bestimmt Probleme, wenn dieser fremde Hund
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