5 1/2 Wochen
loslassen. Dieser Abend hat mir so gut getan. Versteh mich bitte nicht falsch, aber diese Umarmung genieße ich gerade sehr. Darf ich Dich noch ein bisschen festhalten?“ Ich schaue ihm in die Augen und erkenne, dass er es genauso meint, wie er es gesagt hat. So stehen wir noch einige Minuten eng umschlungen da und genießen die menschliche Nähe und Wärme. Zum Abschied gibt es noch ein Küsschen und die Gewissheit, dass wir uns, bis wir Santiago de Compostela erreicht haben, mit Sicherheit nochmal wiedersehen. „Buen camino.“
Bevor ich einschlafe, wird mir wieder bewusst, wie facettenreich das Leben ist: Ich bin außer mir vor Freude und fühle mich geborgen und glücklich wenn ich mit Sabrina, Edit, Oliver und Achim zusammen bin. Wir sind ausgelassen, albern und lachen über alles, was sich dafür anbietet. Ich genieße die Unbeschwertheit und Leichtigkeit in ihrer Gesellschaft. Wir umarmen uns jedes Mal wenn wir uns treffen oder verabschieden. Aber das, was Paul mir eben vermittelt hat, war eine ganz andere Nähe. Auch Hermann hat mir so viel gegeben. Ich liebe seinen Humor, der meinem so ähnlich ist. Wir haben vor Lachen so manches Tränchen vergossen und uns eine Zeitlang gegenseitig versorgt, bis er dann zu meinem Bedauern zu vereinnahmend wurde. So einige Spanier haben mir selbstlos aus der Patsche geholfen und Mary und Lynn, meine Kanadierinnen, haben immer ein Auge auf mich, da bin ich mir sicher. Die Aachener, Franz- Josef und Gabi sorgen dafür, dass ich kleine Überraschungen, wie zum Beispiel eine Nachricht im Schnee, finde. Ina macht mir klar, dass jeder seinen eigenen Weg finden muss, um mit schweren Diagnosen weiterleben zu können. Aus Sören spricht Ruhe Gelassenheit und Humor in jeder Situation. Er hat den Schalk im Nacken. Pia ist die, die deutlich macht, dass zu gegebener Zeit auch Trauer wichtig und angebracht ist. Dagmar-die-Negative erinnert mich daran, dass man sich auch mal entziehen muss um nicht in Negativität zu ertrinken. Und nicht zuletzt haben mir die drei Spanierinnen heute Nachmittag gezeigt, dass man schon genau hinhören muss, was der andere sagt. Ruddi erinnert mich so oft daran, immer schön im Hier und Jetzt zu leben. Ein Hund findet im Moment irgendetwas doof bellt und knurrt wie wild. Dann schüttelt er sich kräftig und läuft schwanzwedelnd fröhlich weiter. Alles zusammengenommen ist es das, was eine funktionierende Familie ausmacht. Jeder hat seinen Part und alle zusammen sind eins.
Montag, 28. April 2008
Villafranca Montes de Oca (191 Einwohner), 948 m üdM, Burgos
14. Etappe bis Atapuerca, 18,6 km
Von dem donnernden Lärm der vorbeifahrenden LKW unter meinem offenen Fenster werde ich so gegen halb acht geweckt. Mein erster Gedanke gilt der heutigen Etappenlänge. Ich sollte mich langsam wieder steigern! Wenn ich so weiter mache, fehlt mir am Ende der Zeit ein Stück Weg bis Santiago de Compostela. Das ist inakzeptabel für mich. „Komme was da wolle, ich schaffe das!“ Mein Reiseführer verspricht für heute gleich nach dem Start, die anstrengende Durchquerung der Montes de Oca. Der Aufstieg beginnt im wahrsten Sinne des Wortes direkt vor der Haustür. Ich muss mir noch eine Flasche Wasser und etwas zu essen besorgen, bevor ich mich auf den Weg mache. Während der nächsten zwölf Kilometer gibt es keine Versorgungsmöglichkeit.
Mit dem Rucksack auf dem Rücken, den Stöcken in der einen und Ruddi an der Leine in der anderen Hand steige ich die Treppen hinab. Auf dem alten Sekretär in der Diele im Erdgeschoss steht ein Pilgerstempel bereit. Die junge Señora von gestern Abend ist nicht zu sehen oder zu hören, also stemple ich meinen Pilgerpass selbst ab. Ich werfe noch einen Blick in die offene Küchentür, in der Hoffnung, dass es ein Frühstücksbuffet mit netten Weggefährten davor gibt. Ein Pläuschchen bei einem Café con leche wäre toll. Aber wahrscheinlich bin ich wieder mal die Letzte, die sich auf den Weg macht. Jedenfalls ist keiner da - genauso wenig duftet es nach Kaffee und ein Buffet ist auch nicht in Sicht.
Ich begebe mich dorthin, wo ich gestern Abend aufgehört habe. Großartig, die Bar hat gerade geöffnet! Außer mir befindet sich kein Gast in diesem Lokal. In Ruhe studiere ich den Wanderführer und stärke mich für die anstehende Etappe durch die Berge. So gegen halb neun mache ich mich letztendlich fröhlich auf den Weg. In der kleinen Tienda von gestern Abend kaufe ich mir eine Flasche Wasser und eine kleine Tüte Kartoffelchips
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