5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
angetan hatte, nicht noch einmal ertragen.
4
Grace
London, eine ominöse Hütte
Nach seinem überraschenden Tod ging der gesamte private Besitz von Oscar Abrahms auf direktem Weg an seinen Zwillingsbruder Mikael. Es gibt die Art von Senioren, die angeln gehen, Scrabble spielen und sich Katzen anschaffen. Nette alte Damen und Herren, die ihren Enkelkindern Kekse backen oder Geschichten erzählen und in die Kirche gehen. Mikael Abrahms gehörte jedoch nicht zu dieser Art.
Neben den Fängern im Institut gab es schon immer auch solche, die lieber unabhängig bleiben wollten, ob nun aus Freiheitsliebe oder weil sie in den Instituten wegen ihrer mangelnden Qualifikation, Anpassung und Teamfähigkeit nicht angestellt wurden. All diese Söldner und Taugenichtse, der Abschaum der Gesellschaft, arbeiteten für Mikael Abrahms.
Es widerstrebt mir, schlecht von Oscars Bruder zu reden, aber auf der Forbes-Liste der gescheiterten Existenzen würde man Mikael Abrahms sicherlich unter den ersten zehn finden. Dass ich mich also in seine kleine, vollkommen verwahrloste Baracke im Randgebiet Londons begab, zeugte lediglich davon, dass ich mir von dem Vertrag wirklich etwas versprach. Genau wie die Tatsache, dass ich Liza im Institut alleine ließ, welches wahrscheinlich gerade zum siebten Kreis der Hölle mutierte. Dieser Vertrag musste schon etwas wirklich Epochales und definitiv Weltbewegendes sein.
Selbst von außen sah die Baracke, ich meine natürlich das Haus, aus wie die Kulisse eines schlechten Horrorfilms.
Mal von der Holzhütte abgesehen, die ich nicht einmal meinem nicht vorhandenen Hund zumuten würde, wirkte der Garten so, als hätte die Natur ihn sich schon vor Jahren zurückgeholt, und Mikael Abrahms’ Grundstück hob wahrscheinlich die Grünanlagen-Statistik für ganz London.
Eine ganze Kolonne von Gärtnern wäre nötig gewesen, um die Vegetation auf ein annehmbares Maß einzudämmen oder sie zumindest so aussehen zu lassen, als würde sie nicht jeden Moment versuchen, Menschen mit Haut und Haar zu fressen. Übertroffen wurde dieser botanische Albtraum nur noch vom Inneren der Hütte, deren Einrichtung Mikaels Charakter entsprach.
Während Oscar sich stets durch Gradlinigkeit und Prinzipientreue ausgezeichnet hatte, war Mikael die Art von zwielichtigem Zeitgenossen, dem man lieber nicht in der Nacht begegnete. Oder am Tag. Oder überhaupt jemals.
Ausgestochen wurde er nur noch von seinen Angestellten, betrachtete man beispielsweise das Wesen, das mir die Tür öffnete. Ich vermutete, dass es einmal ein Mensch gewesen war, dem Mikael in einem seiner gefürchteten Wutanfälle die Ohren abgeschnitten hatte. Zudem hatte es schwere Verbrennungen an so ziemlich allen Stellen, die nicht von der lumpigen Kutte verhüllt wurden.
»Geben Sie bitte die Waffen ab, Miss Grace«, krächzte das Wesen und hielt mir seine Hände hin. Dass es an einer Hand nur drei Finger hatte, lud nicht gerade zum Nicht-Starren ein. Vorsichtig trat ich ein und wunderte mich schon fast, wieso die Böden nicht knarrten oder irgendwo um mich herum seltsame Lichter flackerten.
»Was ist dir nur zugestoßen?«, flüsterte ich, mehr zu mir selbst als zu der Kreatur. Ich benötigte auch keine Antwort, denn ich kannte sie bereits.
»Mikael!«, rief ich zornentbrannt aus. Natürlich war jeder von uns, zumindest jeder, der eine Führungsrolle ausübte, bis zu einem gewissen Grad kompromisslos, berechnend und vielleicht auch grausam. Oscar war es gewesen, und ich war es auch gelegentlich, wenn auch niemals gerne. Nie durfte man Schwäche zeigen, wenn man nicht zum Schwachen werden wollte. Der Respekt der eigenen Leute war eine absolute Notwendigkeit. Aber niemals sollte man Gewalt gegen seine Angestellten, seine eigenen Leute richten.
Mein Schrei hallte mehr, als es in einer Holzhütte überhaupt hätte möglich sein können, und ich war mir bewusst, dass ich aufstampfte wie ein kleiner Elefant. Aufgebracht öffnete ich die kunstvolle Eichentür, vor der ich und Matt früher immer gewartet hatten, wenn Oscar geschäftlich mit seinem Bruder reden musste. Damals hatten wir uns Geschichten zu dem eingearbeiteten Löwen ausgedacht und uns gefragt, ob er den Drachen besiegen könnte, der uns vom Stuck der anderen Seite hinab überlegen musterte. Später wurde uns dann bewusst, dass der wahre Löwe hinter dieser Tür auf seinem Thron saß und seine Krallen wetzte.
»Grace. Welch eine unerwartete Überraschung«, begrüßte mich der Löwe spöttisch mit
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