5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
vergessen.
Er war vielleicht der Löwe, doch ich war jetzt der Drache.
»Mikael. Es geht hier nicht um mich oder dich. Es geht um das Institut, das Oscar liebte. Und um die Arbeit, die wir alle erledigen, wenn auch auf verschiedene Art und Weise. Ich kann dich nicht bitten, mir zu vertrauen, aber vertrau darauf, dass es für uns Konsequenzen haben wird, wenn du mir nicht hilfst. Für dich ist es nur ein Stück Papier. Aber für uns ist es von unschätzbarem Wert. Schon alleine, dass ich dir jetzt anvertraue, wie wichtig es für uns ist, zeigt, dass ich versuche, dir zu vertrauen.«
Jedes Wort kostete mich Überwindung. Es musste besser sein, mich bewusst zu entwaffnen, als die Beherrschung zu verlieren. Ich war keine dieser Kämpferinnen, die mit Schwert und Messer Schlachten gewannen, das war immer Matt gewesen oder Kelly. Ich war eher wie Cassriel und schlug meine Gegner durch Worte. Das war es, was mich gefährlich machte.
»Nehmen wir an, ich wüsste, worum es sich handelt, und wäre gewillt, dieses Schriftstück abzugeben«, seufzte Mikael ergeben, und ich konnte es kaum fassen.
»In diesem Falle müsste für mich selbstredend etwas dabei herausspringen – außer deinem Wort, dass es wichtig ist.«
»Selbstverständlich«, antwortete ich. Es war mir die ganze Zeit über klar gewesen, dass mir Mikael das Dokument nicht umsonst aushändigen würde, doch was sollte ich ihm zum Tausch anbieten?
»Ich will Anteile am Institut.« Er grinste mich böse an. Von Zahnhygiene hatte er wohl noch nie etwas gehört.
»Ausgeschlossen.«
»Es gibt nichts, was jemand wie du mir sonst bieten könnte, Grace.«
Jetzt hatte er mich. »Wie wäre es mit engerer Zusammenarbeit?«, schlug ich hoffnungslos vor.
Noch enger und ich würde ihm in seine fettigen Haare speien.
»Ausgeschlossen.«
»Assoziierungsabkommen?«
»Ausgeschlossen.«
»Veränderte Konditionen?«
»Grace, meine moralischen Grundeinstellungen sind im Gegensatz zu den deinen keine Verhandlungsbasis. Gerade eben wolltest du mich umbringen und jetzt bietest du mir Bündnisse an? Wie lange wird es dauern, bis du nachgibst, meine Teuerste?«
Auch in diesem Punkt hatte er recht. Diesen Moment der Verhandlung hätte ich unter normalen Umständen noch wochenlang in die Länge gezogen. Unglücklicherweise hatten wir keine Wochen mehr Zeit. Wir hatten nur noch Tage und es gab absolut nichts, was ich ihm hätte bieten können.
»Was für ein Interesse hast du am Institut?« Ein böser Verdacht beschlich mich.
»Siehst du nicht, dass ich der bessere Leiter wäre, Grace? Du bist ein Mädchen. Talentiert zwar, aber jung. Und schwach.«
»Ich bin nicht schwach«, presste ich hervor und umfasste die Klinge meines Messers mit der bloßen Hand.
Mikael weitete die Augen angesichts dieser alten Geste der Leiter. Meine Hand brannte und füllte sich mit meinem Blut, als ich ihm das Messer vor die Füße warf und sein ledriges Gesicht mit der blutenden Hand umfing.
»Ich, Grace Darcy, schwöre dir, Mikael Abrahms, Bruder des Oscar Abrahms, Leiter der Instituts London zu werden. Nach meinem Tod. Dies ist der verbindliche Schwur der Seelenfänger, Brüder der Engel und Kinder des HERRN . Nach meinem Tod, sollte dieser nicht durch dich oder deine Günstlinge herbeigeführt werden, wirst du meinen Platz einnehmen. Mit Gottes Hilfe.«
Fakt ist: Ich werde Mikael überleben müssen.
6
Grace
London, eine Parkbank
Was hatte ich dem Institut nur mit dieser Entscheidung angetan?
Andererseits war eine mögliche, spätere Beteiligung Mikaels am Geschehen im Institut besser als eine sofortige Beteiligung. Das, was ich ihm jetzt versprochen hatte, war aber noch immer eine Generalvollmacht für den Fall meines Ablebens. Da ich fast hundert Jahre jünger als Mikael war, hatte ich gute Chancen, ihn zu überleben. Und genau das würde ich tun, um dann auf seinem schlecht bepflanzten Grab zu tanzen. Das war ich dem Institut schuldig. Erschreckenderweise machte es mir viel mehr Angst, den Brief zu öffnen. Ich sog so viel Luft wie möglich ein. Wenngleich ich schon seit einer halben Stunde auf der Parkbank saß, hatte ich noch immer Mikaels ekelerregenden Geruch in der Nase.
Nachdenklich strich ich über das vergilbte Pergament. Zu meiner Verwunderung war das Siegel noch ungebrochen. Ich hatte von Mikael erwartet, dass Privatsphäre ihn ungefähr so interessierte wie ein Friseurbesuch. Trotzdem war er sich sicher gewesen, dass es sich um das richtige Dokument handelte. Ich atmete
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