56,3° Im Schatten
Schädel. Und er besteigt es sogar noch sehr viel zögerlicher, als vor bald 55 Jahren seine Biermösel-Mama das Waffenrad vom Franzosen bestiegen hat, der es dann nicht schnell genug hat gehen können, nachdem ihr der Schonn Gabönn das Knie zwischen die Schenkel geschoben und sie über den Tanzboden gejagt hat.
Der alte Biermösel hat sich zu Hause vielleicht wirklich ein bisserl zu viel um seine Schweinderl im Stall gekümmert und zu wenig um das verwelkende Gemüse hinten im Garten, das – bildlich gesprochen – seine Mutti war. Und es ist vielleicht überhaupt ein bisserl zu wenig gelesen und zu viel gefressen worden bei ihnen zu Hause in der Wirtsstube, „wo bleiben denn der Benimm und das Niveau, die Elegons und das gute Essen abseits von Kraut und Knödel, wo der jahrelang gereifte Cognac?“, hat die Alte bald angefangen, auch Fragen nach der richtigen Ernährung für Geist und Körper zu stellen, und die entsprechende Antwort ist ihr der Alte natürlich an keinem Abend schuldig geblieben: ein dreckig gedehntes Junggesellenlied ums andere hat er komplett besoffen in den Schafwollpolster hineingesungen, nicht genug, um die Erde zu erwärmen, aber weiß Gott genug, um das Herz seiner Mutti erkalten zu lassen.
In der Folge hat sie ihrem traurigen Trümmermama-Dasein mit der wässrigen Suppe während der Woche und den gehackten Graswurzeln als Nachspeise am geheiligten Sonntag jedenfalls immer weniger abgewinnen können, während der Alte die ganzen Schweinderl lieber alleine gefressen hat, „ich war ja auch alleine im Krieg!“, hat er immer gejammert, „und ich bin auch alleine mit dem Vitaminmangel nach Hause gekommen!“
So war es.
Noch bevor die Alte die Tanzböden in den Bierzelten als kleine Weltflucht für sich entdeckt hat, hat der Biermösel seine Mutti schon zu den zwei englischen Besatzungssoldaten, die Neger waren und die entsprechende Musik im Blut gehabt haben, sagen gehört: „The Ausseerland is too small for me!“
Aber die zwei Hosenscheißer haben sie wegen ihrer schlechten Erfahrung mit Ausbruch und Flucht aus der Sklaverei lieber gebremst und mit warnendem Zeigefinger und klapperndem Zungenschlag zu ihr gesagt:
„We can understand you very well, lady, this whole shit-valley is for the sausages! But before you want to run away, you must listen very carefully to our warning words, which we can sing for you, do you want to hear?“
„Yeaaaah!“
Und dann haben sie sich ein Waschbrett genommen und angefangen, den Blues zu singen, „And one, two, three:
Don’t fly too high, my little friend
The sun up there burns so very very very hot hot hot!
Who wants to flyyyyyyy tooo high will diiiiie
in the skyyyy!“
Lieber ein Leben lang auf den Sklavenplantagen des Südens als ein Leben in Freiheit. Lieber zu Hause bleiben bei den Würschteln mit Saft als hinauf zu den Sternen, das war im Wesentlichen ihre Botschaft. Komische Leute hat es immer gegeben, schüttelt der Biermösel noch heute den Kopf über diese Gesangsvorstellung, aber die zwei Spinner waren wirklich einmalig.
Der Alten aber ist der Sinn trotzdem nicht mehr länger nach dem Pauli Hörbiger gestanden, sondern mehr nach einem Jean Gabin respektive einem Schonn Gabönn, wie die Einheimischen zu den Franzosen im Allgemeinen gesagt haben. Nach einer rauen Visage samt weichem Kern dahinter und mit einem Dackelblick hinter den hängenden Gardinen. Nach dem genauen Gegenteil vom Alten also, der zwar auch wie ein Franzose ausgeschaut hat, nachdem er mit dem Schrapnell im Schädel aus Russland heimgekommen ist, allerdings wie der alte Franzose Quasimodo in seinem Glockenturm in Paris drüben.
An das ganze häusliche Drama muss der Biermösel jetzt wieder denken, als er seine abendliche Fahrt fortsetzt, während der es noch immer respektable 46,4 ° im immer länger werdenden Schatten hat. Er öffnet weit sein schwarzes Hemd und zieht die General-Jaruzelski-Brille tief ins Gesicht, und mit seiner Doppelläufigen in der rechten Schusshand, die er immer wieder in den Wald hinein richtet, schiebt er die aufgestaute, tonnenschwere Hitze vor sich her.
Nur ungern lässt sich die übermütige Luft von ihm verdrängen, sie will lieber mit ihm spielen wie der italienische Eisverkäufer mit den Gefühlen der sonnenverbrannten Touristin. Mit falscher Zärtlichkeit schmiegt sich die Luft an ihn wie das Nagelbrett an den verträumten Yogi, sie umschmeichelt ihn wie die Glasscherben die Fußsohlen, und bald tut sie ihm so richtig weh,
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