58 - Die Liebe des Ulanen 04 - Hinter feindlichen Linien
läßt!“
Sie verabschiedete sich und ging.
Erst jetzt griff Marion in die Tasche und zog die Schlange hervor. Damen hegen gewöhnlich eine unüberwindliche Abneigung gegen Reptilien. Es war wunderbar, daß das schöne Mädchen keinen Abscheu fühlte.
„Er hat recht gehabt; du hast mich geschützt!“ sagte sie. „Komm, ich werde dich wieder verbergen.“
Sie trat zu ihrer kleinen Bibliothek und versteckte das Tier hinter die Bücher, wo sie von Watte ein Lager für dasselbe bereitet hatte. Dann kleidete sie sich zum Ausgehen an und verließ das Schloß, ohne am Spaziergang gehindert zu werden.
Ihr Weg führte sie in den Wald, zum alten Turm, an das Grab der Mutter. Dort im Turm, auf den Stufen, hatte sie mit Müller gesessen an jenem Gewittertag!
Wie kam es doch nur, daß sie immer und immer an den Erzieher denken mußte. Machte die Art seines Unterrichts einen solchen Eindruck auf sie? Gab es gewisse sympathische Beziehungen, die ja kein Mensch begreifen kann? Sie überließ sich diesen Regungen, ohne sich über dieselben Rechenschaft zu geben.
Am Grab kniete sie nieder und betete. Sie ahnte nicht, daß es geöffnet worden war. Während des Gebetes fiel ihr Blick auf die eingefallene Zinne des Turms, und es war ihr, als müsse jene geheimnisvolle Gestalt erscheinen, welche damals das islamitische Gebet hinaus in Wind und Wetter gerufen hatte. Es war darauf heller Sonnenschein geworden.
Gibt es auch Gebete, welche die Stürme des Herzens und des Lebens beschwichtigen können?
Fast war es so; denn als sie sich jetzt erhob, war eine wunderbare Ruhe über sie gekommen. Sie schritt weiter, aus dem Wald hinaus, über das freie Feld. Der Weg senkte sich, und dann stand sie unten im Steinbruch, dessen Wände senkrecht in die Höhe stiegen. Sie maß mit ihrem Auge den jähen Absturz. Da oben auf diese fürchterliche Kante war ihr Bruder zugeflogen. Sie schauderte. Müller hatte ihn gerettet! Wieder dieser Müller! Warum doch?
Ein großer Stein lag in der Nähe. Sie ließ sich auf demselben nieder. Sie hatte dasselbe Täschchen am Gürtel hängen wie damals auf dem Dampfschiff. Sie öffnete es und langte hinein. War es unwillkürlich oder mit Absicht? Sie zog die Photographie hervor, welche sie sich in Berlin erbeutet hatte.
Das Bild hatte selbst im Wasser der Mosel nicht gelitten, da der Verschluß ein dichter war. Sie richtete ihr Auge auf die Photographie. Wie oft, wie unzählige Male war dies in letzter Zeit geschehen! Und dann war es nicht jener glänzende Reiter gewesen, an den sie dachte, sondern Müller, der unscheinbare Erzieher.
Da hörte sie nahende Schritte. Schnell steckte sie die Photographie wieder ein und wendete sich um, dem Mann entgegen, welcher soeben um die Ecke trat. Es war – Müller.
Sie erhob sich. Eine tiefe Röte verbreitete sich über ihr Gesicht. Er war überrascht, aber nicht verlegen, als er sie erblickte. Er zog den Hut, grüßte und sagte:
„Sie hier, gnädiges Fräulein? Verzeihung! Gestatten Sie mir, mich zurückzuziehen.“
Sie schüttelte leise den Kopf und antwortete:
„Sie verursachen mir keine Störung, Monsieur Müller.“
„Und doch ist die Einsamkeit ein Heiligtum, welches man nicht entweihen soll, Fräulein.“
„Suchten vielleicht Sie, allein zu sein?“
„Nein. Mein Weg führt zufällig hier vorüber, und da trat ich in den Bruch, um –“
„Um den Schauplatz einer kühnen Tat wieder zu sehen“, fiel sie ihm in die Rede. „Ich sehe erst jetzt, was wir Ihnen zu danken haben. Wissen Sie, daß Sie ein verwegener Mann sind, Monsieur Müller?“
Er verbeugte sich und antwortete höflich ablehnend:
„Man handelt im Drang des Augenblicks.“
„Ja, ein jeder Mensch tut das. Aber der eine kämpft, und der andere flieht im Drang dieses Moments. Und hierbei fällt mir ein, daß ich Sie um Verzeihung zu bitten habe.“
Er blickte sie fragend an, und sie fügte hinzu:
„Erinnern Sie sich meiner Verwunderung darüber, daß Sie die Beleidigung des Obersten Rallion so ruhig hinnahmen?“
„Es ist mir gegenwärtig“, antwortete er.
„Was ich damals für Mangel an Mut hielt, war Heldentum: Sie siegten über sich selbst.“
Da trat eine freudige Röte in sein Gesicht; seine Augen blitzen auf, und er sagte im Ton herzlicher Freude:
„Nehmen Sie meinen Dank, Mademoiselle. Sie bieten mir da eine Gabe, welche für mich von höchstem Wert ist.“
„Und Sie brachten mir ein Opfer, welches Ihnen große Überwindung kostete, ohne mir eine Freude zu
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