61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig
eine Faust machen wolle.
„Gott, mein Gott!“ sagte sie. „Hier duftet es nach Braten und Speck, nach Wein und Delikatessen, und ich soll hungrig fortgehen! Denken Sie daran, Herr Pastor, daß wir heute auch gesungen haben:
Trotz den Feinden! Trotz den Drachen!
Ich kann ihre Macht verlachen!
Trotz dem schweren Kreuzesjoch!
Gott, mein Vater, lebet noch!“
„Was will Sie damit sagen?“ fragte er.
„Daß ich Sie für einen Engel gehalten habe, den uns Gott sendet. So dachte ich, als ich Ihre Worte hörte. Nun ich aber Ihre Taten sehe, erkenne ich, daß ich mich geirrt habe. Ich bin eine arme, schwache und blinde Frau; ich habe im stillen hilflos gehungert und gedürstet, geklagt und geweint; ich habe mich über niemand beschwert. Heute aber muß es heraus, und wenn ich daran sterben und untergehen soll!“
„Ah, Sie will sich beschweren? Über wen denn?“
„Über die Wölfe, die in Schafskleidern zu uns kommen. Es gibt einen guten Gott, der helfen will, aber seine und unsere größten Feinde sind die, welche seine Worte im Mund führen, aber im Herzen wie die Teufel denken. Das sind die Feinde und die Drachen, von denen wir gesungen haben!“
„Was! Sie räsoniert!“ rief er zornig.
„Ja“, antwortete sie. „Ein solcher Feind, ein solcher Drache sind auch Sie! Aber Gott, mein Vater, lebet noch! Er wird einen Boten senden, der Sie zertritt, wie der Erzengel den Teufel, wie der heilige Georg den Drachen! Das ist es, was ich sagen will. Und nun will ich gehen und weiter hungern!“
Die Worte brachten eine allgemeine Aufregung hervor.
„Welche Unverschämtheit! Freches Weib!“ ertönte es rund um den Tisch herum.
„Werft sie hinaus!“ gebot der fromme Schuster, indem er seine Hand gegen sie ausstreckte, wie der alttestamentliche Richter über die dem Verderben geweihte Feindesstadt.
Da aber erhob sich der Pfarrer von seinem Stuhl, ergriff die Frau beim Arm und sagte:
„Warten Sie, liebe Frau Löffler! Wer Sie in dieser Weise fortjagt, der treibt auch mich von dannen!“
Er griff nach seinem Hut.
„Was! Sie wollen doch nicht etwa gehen?“ fragte Seidelmann.
„Allerdings!“
„Wegen dieses Weibes?“
„Ja. Ich habe Ihnen nämlich zu sagen, meine Herren, daß ihr bereits geholfen ist. Ich werde sie nach meiner Wohnung führen. Ich bin zwar nicht ein Vorsteher der Brüder und Schwestern der Seligkeit; ich bin nur ein arm besoldeter Pfarrer, aber ein Stückchen Brot und ein Schälchen warmen Kaffee habe ich für diese Hungernde doch übrig.“
„Sie greifen Gott vor!“ rief der Schuster.
„Ich hoffe, daß er es mir vergeben wird. Übrigens widersprechen Sie sich ja selbst. Sie haben heute für die Notleidenden eingesammelt. Darf ich vielleicht fragen, wieviel diese Sammlung ergeben hat?“
„Wir sind Ihnen keine Rechenschaft schuldig. Sie sind weder ein Mitglied unserer Gesellschaft, noch wurden Sie von der Obrigkeit eingesetzt, die Verhältnisse unserer Kasse zu kontrollieren!“
„Wohl. Aber immer widersprechen Sie sich doch! Warum sammeln Sie, wenn Sie jetzt behaupten, daß man mit Wohltaten dem Herrn vorgreife?“
„Gottes Befehl wird schon an uns ergehen!“
„Wie und auf welche Weise gedenken Sie solche Befehle von Gott zu empfangen?“
„Durch die Stimme unseres Herzens.“
„Nun gut, so lassen Sie Ihr Herz für diese Frau sprechen, und geben Sie ihr einen Teil der Summe, welche Sie heute eingesammelt haben!“
„Das geht nicht. Wir wirken im Verborgenen. Kein Mensch, der etwas von uns empfängt, darf wissen, von wem es ist. Christus gebietet ja: Laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut!“
„Sie gebrauchen da dieses Christuswort auf eine vollständig verkehrte Weise. Und sodann: Wenn Sie nur im Verborgenen wohltun, geben Sie wahrscheinlich auch keinem Menschen Rechnung über Ihren Kassenstand. Ich warne Sie sehr vor der Verantwortung! Unsere allerärmsten Leute haben ihre letzten Kreuzer hergegeben. Es wäre eine fürchterliche Sünde, diese Scherflein anders anzuwenden, als die Spender gedacht haben!“
Da trat der Schuster auf den Pfarrer zu und sagte:
„Herr Pastor, haben Sie heute meinen Vortrag gehört?“
„Ja. Jedenfalls haben Sie gesehen, daß ich anwesend war!“
„So haben Sie wohl auch bemerkt, daß ich wenigstens ein ebenso guter Redner bin wie Sie. Sie sind mir auf keinen Fall überlegen. Ich bin ein Christ, aber Sie gehören nicht zu unserem Verein. Sie haben hier kein Wort zu sprechen.“
„Sie sind ein Christ, wie Sie
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