61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig
Bürgermeister und noch andere. Die Tafel war sehr reich besetzt. Auch der Knappschafts- und Armenarzt war anwesend. Er hatte seinen Platz neben dem frommen Schuster. Eigentlich war er nicht geladen; aber er war zu einer Kranken gerufen worden und dann zufälligerweise zu Seidelmanns gekommen.
„Was fehlt der Frau?“ fragte der Fromme.
„Pah! Was soll ihr fehlen? Die Auszehrung hat sie wie hier fast alle Leute!“
„Gibt es keine Rettung?“
„Meinen Sie etwa, daß ich so eine Kohlenschauflerin nach Nizza, Kairo oder Madeira schicken kann?“
„Das ist richtig! Aber, mein Lieber, Sie haben voriges Jahr der Knappschaftskrankenkasse bedeutende Ausgaben verursacht.“
„Meinen Sie etwa die vierhundert Gulden Gehalt, welche ich bekomme?“
„Nein; das ist Fixum; darüber gibt es nichts zu sprechen, obgleich Sie diese Summe nur so nebenbei verdienen. Aber es sind einundzwanzig Gulden für den Apotheker verausgabt worden. Denken Sie, einundzwanzig Gulden in einem einzigen Jahr! Das ist stark!“
Da beugte sich der Arzt noch näher zu ihm hin, so daß niemand hören konnte, was sie sprachen, und fragte:
„Wissen Sie, für wie viele Kranke diese Summe verausgabt worden ist?“
„Ich habe nach Gulden zu rechnen, nicht aber nach Kranken. Ich bin der Bevollmächtigte des Barons, dessen Interessen ich zu wahren und zu vertreten habe.“
„Nun wohl! Diese einundzwanzig Gulden sind für zweihundertunddreizehn Krankheitsfälle verausgabt worden. Da haben also im Durchschnitte mehr als zehn Kranke nur für einen Gulden Medikamente, Stärkungsmittel und so weiter erhalten. Das darf ich keinem Menschen sagen!“
„Das fehlte noch! Sie sind Diener des Barons. Übrigens haben Sie statistisch nachgewiesen, daß es nur leichte Erkrankungen gewesen –“
„Oh, oh!“ fiel ihm der Arzt in die Rede. „Soll ich etwa wissen lassen, daß gerade mein Bezirk der elendeste des ganzen Landes ist?“
In diesem Augenblick brachte der Hausherr einen Toast auf das Bestehen der Gesellschaft der Brüder und Schwestern der Seligkeit aus. Die Hochs erklangen, und die Gläser klirrten; der Wein floß in die durstigen Kehlen. Niemand bemerkte in diesem Augenblick die Frau, welche leise eingetreten war und, sich mit den beiden Händen am Türpfosten haltend, vorn am Eingang stand.
Es war eine Greisin, wenigstens hatte sie ganz das Aussehen einer solchen. Ihre Augen fehlten; die Lider waren tief eingesunken, denn es waren keine Augäpfel mehr vorhanden. Ihr Haar war vom Wind zerzaust, und ihre Kleidung bestand aus dünnen Fetzen, welche nicht imstande waren, die Kälte von dem armseligen Leib abzuhalten. Sie zitterte vor Frost an allen Gliedern.
Jetzt war der Toast beendet. Die Tafelgäste, welche sich erhoben hatten, setzten sich wieder nieder, und nun wurde auch die Alte bemerkt. Es war dieselbe Armenhausbewohnerin, von welcher der Förster heute gesprochen hatte.
„Was! Die alte Löffler!“ rief der Kaufmann. „Was will denn Sie bei uns?“
„Oh, nehmen Sie es nicht übel!“ sagte die Frau, indem ihr die zahnlosen Kinnladen vor Frost zusammenschlugen. „Ich suche den Herrn Pastor Seidelmann.“
Der Schuster fühlte sich außerordentlich geschmeichelt darüber, daß sie ihn Pastor nannte. Er stand von seinem Stuhl auf und fragte:
„Ich bin es. Was will Sie, liebe Frau?“
„Ich war heute in der Schenke. Ich habe mich von einem Jungen hinführen lassen. Ich wollte –“
„Was? In der Schenke war Sie?“ fragte er rasch.
„Ja, Herr Pastor.“
„Ist Sie nicht eine Bewohnerin des Armenhauses?“
„Ja, schon seit langer Zeit.“
„Und da geht Sie des Abends in die Schenke? Ich denke, jeder Armenhäusler muß zur gewissen Zeit zu Hause sein!“
„Das wird bei uns nicht so genau genommen, weil wir nach dem lieben Brot gehen müssen. Auch habe ich den Armenhausvater heute um Erlaubnis gefragt.“
„Und er hat es Ihr bewilligt?“
„Ja, Herr Pastor.“
„Das ist stark! Der Vorsteher bewilligt Ihr, in die Schenke kneipen zu gehen, wohl gar Schnaps zutrinken?“
„O nein, nein! Das nicht! Ihre Rede wollte ich hören!“
„Ah! Das ist etwas anderes! Nun, was will Sie denn jetzt und hier?“
Die Alte sann einige Augenblicke nach, um die rechten Worte zu finden und antwortete dann:
„Nun, Herr Pastor, ich hörte, daß Sie von der Not und dem Elend sprechen wollten und von der Hilfe, welche es dagegen gibt. Not und Jammer gibt es hier überall, aber zu den Elendsten gehöre doch ich.“
„Ja, Sie ist
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