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617 Grad Celsius

Titel: 617 Grad Celsius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Eckert
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entzündet. Wir versuchen, den Hirndruck medikamentös zu senken. Das Fieber kriegen wir jedoch nicht herunter. Es tut mir schrecklich leid und ich sage so etwas normalerweise nicht am Telefon, aber nur aufgrund der Beatmungsmaschine …«
    »Abschalten«, stieß Anna hervor. Ihr war klar, dass der Arzt nicht verpflichtet war, auf sie zu hören. Trotzdem wiederholte sie leise: »Schalten Sie endlich das verdammte Ding ab.«
    Sie legte auf. Widersprüchliche Gefühle schwirrten durch ihren Kopf. Bernd Winkler, Expolizist und Abgeordneter.
    Ich bin seine Tochter.
    Ich bin nicht seine Tochter.
    69.
    Über die Dörfer raste sie nach Westen, bis sie hinter Korschenbroich ein Waldstück erreichte. Das Verbotsschild missachtend bog sie in einen holprigen Forstweg, dem sie folgte, bis sie von der Landstraße aus nicht mehr zu erspähen war.
    Sie hievte den Farbeimer aus dem Kofferraum, warf ihn in den Graben und zog den Deckel ab. Aus einem Kanister schüttete sie Benzin auf den Inhalt. Die ersten drei Streichhölzer erloschen auf ihrem Flug in den Eimer. Das vierte ließ eine hohe Stichflamme auflodern.
    Anna studierte das Werk der Flammen. Plastik wellte sich, warf Blasen und wurde schwarz. Stinkender Qualm stieg auf. Preiselbeerkräuter fingen Feuer und brannten nieder, doch darüber hinaus breitete sich die Glut nicht weiter aus.
    Beinahe hätte Anna die Tagebücher vergessen. Sie holte die drei Hefte, die auf dem Beifahrersitz lagen, und schleuderte sie in die Flammen, die noch einmal aufloderten. Anna dachte daran, dass man dem Feuer eine reinigende Kraft nachsagte.
    Ein paar Reste würden übrig bleiben: die Scherben des Sektglases und die Klinge des Tatwerkzeugs. Aber niemand würde mehr auf Bernd Winkler schließen können.
    Nach kurzer Zeit lagen nur noch schwarze Klumpen auf einer verkohlten Fläche. Anna schichtete Blätter und dürre Zweige darüber. Wie viele Überraschungen würde das Leben noch für sie bereithalten? Der Expolizist und sein Faktotum hatten sich vermutlich näher gestanden als Winkler und der Rest der Familie – und das schon seit Jahren.
    Der Rückweg führte durch ein Wohngebiet, dessen Bewohner ihre Mülltonnen an die Straße gestellt hatten. Anna stoppte und entsorgte den Deckel des Farbeimers.
    Gegen Abend fasste sie sich ein Herz und suchte ein zweites Mal den engen Schutzkeller auf. Immer lauter ratterte die Lüftung, als schlage der Ventilator gegen das Gehäuse.
    Eine gute Stunde verbrachte Anna damit, das Archiv des Abgeordneten nach Unterlagen zu durchforsten, in denen der Name Uwe Strom stand. Als der Papierstapel zwei Finger dick war, stopfte sie ihn in einen Umschlag, den sie an den Chefredakteur des Blitz adressierte und in den nächsten Briefkasten warf.
    Wie ist Uwe Strom eigentlich so als Mensch?
    Als sie in ihre neue Wohnung zurückkehrte, klingelte das Telefon.
    Bernd Winkler war tot.
    Sie hatte endgültig keinen Vater mehr.

70.
    Annas Wahllokal war ein Zimmer im Erdgeschoss der alten Schule am Leo-Statz-Platz, in deren Nähe sie vor dem Bosnieneinsatz gewohnt hatte. Nach der Stimmabgabe besuchte sie Lutz und seine Frau. Die beiden tischten Käsekuchen auf und meinten, Anna mit gut gemeinten Sprüchen trösten zu müssen – gestern hatte sie Winkler beerdigt.
    Auf dem Heimweg hielt Anna an einem Videoladen, der jeden Tag geöffnet hatte. Sie wählte Magnolia aus, einen Film mit Tom Cruise und Julianne Moore, den sie verpasst hatte, als er vor vier oder fünf Jahren im Kino gezeigt worden war.
    Als sie die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss, freute sie sich auf einen gemütlichen Abend. Der Sekt stand bereits kalt. Sie wollte nicht länger über Vergangenes brüten.
    Sie schnitt die Rosen an, die sie gestern gekauft hatte, und gab ihnen frisches Wasser. Eine Blüte legte sie in den Schoß des Alabasterbuddhas, den sie wie die Kommode und den alten Wandspiegel aus dem Elternhaus mitgebracht hatte.
    Im Vorbeigehen knipste sie den Fernseher an.
    Die Wahllokale schlossen gerade. Es gab noch keine Hochrechnungen, aber einen ersten Trend: Die bisherige Opposition im Landtag lag vorn.
    Die gestern publik gewordene Schwarzgeldaffäre des Ministerpräsidenten galt bereits jetzt als entscheidender Faktor für den Einbruch der Partei Uwe Stroms, die das Land jahrzehntelang regiert hatte.
    Anna deckte den Tisch. Vor dem Film sollte es ein leckeres Essen geben. Eine Einweihungsparty, exklusiv für sie.
    Sie nahm den Lammrücken aus dem Kühlschrank und spülte ihn ab. Er war groß genug

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