617 Grad Celsius
Polizei Bernd Winkler in die Enge getrieben. Einen Schlaganfall bekommt man nicht einfach so, dachte Sven.
Er trank sein Glas aus. Als er es absetzte, bemerkte er, dass der Kanarienvogel auf ihn zukam und sich zu ihm setzte.
»Hallo Großer, mein Name ist Costa. Ist es nicht ein wundervolles Omen, wenn das Wochenende mit einem solchen Naturschauspiel beginnt?«
Costa lächelte, als meinte er sich selbst und nicht die Mondfinsternis. Sven stellte sich den Jungen ohne seinen Pulli vor. Ganz ohne Klamotten. Er musste wieder an Daniel denken, den Maler, der ihm vor gut zwei Jahren in diesem Lokal seine Visitenkarte gegeben hatte. Meine Tür steht dir offen, wann immer du kommen möchtest.
Er wusste nicht, wie er reagieren sollte.
Costa sagte: »In der Zeitung stand, dass der Mond die Körpersäfte in Wallung bringt. Ehrlich gesagt, dazu brauche ich ihn gar nicht.«
»Ich auch nicht«, antwortete Sven und registrierte, dass er das Lächeln erwiderte. Es war ihm, als beobachte er sich selbst dabei, wie er auf die Annäherungsversuche des jungen Kerls einging. Parallele Welten – in der einen handelte er instinktiv, in der anderen fällte er darüber ein Urteil, das nicht gut ausfiel. Und alles zur gleichen Zeit. Eigentlich hatte er darüber mit Anna reden wollen.
»Wie heißt du?«, fragte der Kanarienvogel.
»Sven.«
»Öfter hier?«
»Zum ersten Mal seit langem. Ich bin Musiker und war zwei Jahre mit meiner Band unterwegs.«
»Geil. Was spielt ihr denn so?«
»Alternative mit einer Prise Hardrock. Ich schreibe die Songs und spiele Gitarre.«
»Würd ich gern mal was von hören.«
Der Typ rieb mit dem Knie an seinem Bein. Sven stellte fest, dass sein Lächeln breiter wurde. Das war nicht in Ordnung. Er würde die Kontrolle verlieren. Irgendetwas brachte ihn ganz durcheinander. Vermutlich die Angst um Bernd, der auf der Intensivstation lag und nicht aufwachen wollte.
»Ich wohne außerhalb«, erzählte Costa. »Wir können aber auch zu dir gehen. Vielleicht stehst du nicht auf kleinere Typen, aber ich sag immer: Es ist nur ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber …«
»Ja, ja. Ein Riesending in deinem Schritt«, stieß Sven hervor und schubste Costa von sich weg. Der Tisch wackelte, das Glas kippte und klirrte zu Boden. »Hau ab und lass mich in Ruhe!«
Der Junge wich zurück. »Bist du der Sven? Mister Big?«
Costa ignorierend legte Sven einen Geldschein auf den Tisch, griff nach dem Rucksack und verließ den Laden. Mit eiligen Schritten lief er davon. Woher die Schwuchtel ihn zu kennen glaubte, war ihm ein Rätsel.
Schließlich blieb Sven stehen, um sich zu orientieren. Vom Rhein wehte eine kühle Brise herüber, die nach Meer roch. In seinem Kopf kehrte Klarheit ein. Er schaute hoch zum Mond und den Sternen. Parallele Welten.
Er war noch einmal davongekommen und sauber geblieben.
Dann erinnerte er sich, warum er eigentlich in diese Gegend gefahren war.
68.
Anna-Luna, dachte Thilo Becker, als es klingelte. Sie macht ihre beschissene Ankündigung wahr. Die Leuchtziffern seines Radioweckers zeigten 4:15. Die Tante war verrückt.
Sein erster Impuls war, sich umzudrehen und weiterzuschlafen. Dann schlüpfte er aus dem Bettzeug, zog den Bademantel über, ging zur Wohnungstür und drückte den Knopf der Sprechanlage. Unten tönte der Summer.
Thilo öffnete die Tür einen Spalt und ging in die Küche, um Wasser für eine Kanne Tee aufzusetzen. Er malte sich aus, dass die Kollegin unter dem Mantel lediglich Reizwäsche trug und gekommen war, um ihn zu verführen – ein verzweifelter Versuch der Bestechung.
Eine solche Nacht hatte er lange nicht erlebt. Erst hatte ihn der Vollmond wach gehalten, dann das Prasseln des Regens, schließlich Annas Anruf, der ihn über den Fall nachdenken ließ, in den sie verstrickt war.
Anna-Luna: erpresst einen Zeugen, damit er seinen Mitbewohner belastet. Erzählt, dass Michael Lohse, Kollege im KK 13, einen Mord gestanden habe – was niemand mehr nachprüfen kann. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Thilo war gespannt, mit welchem Märchen sie als Nächstes aufwarten würde.
Der Name des Mörders lautet Sven Arnold. Es gibt Anhaltspunkte, dass er es vielleicht auf dich abgesehen hat.
Welch ein Aufwand an Fantasie, um vom geliebten Vater abzulenken.
Das Wasser brodelte. Thilo löffelte grünen Tee ins Sieb und überbrühte ihn.
Die Tür krachte ins Schloss. Schritte im Flur.
»Hallo, Luna«, grüßte Thilo.
Dann nahm er wahr, dass es ein Kerl war, der
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