617 Grad Celsius
dahinter hatte man nach Möglichkeit auszublenden, um das eigene Gleichgewicht zu bewahren.
Der Mord an Daniel hatte alles ins Wanken gebracht.
Mit einem Schaudern verließ Anna den Raum und drückte die nächste Klinke.
Das Gästezimmer, einst als zweites Kinderzimmer geplant. Es diente nun als Rumpelkammer, in der ihr Vater alles aufbewahrte, wovon er sich nicht trennen konnte. Bildbände, Bierkrüge, Schnapspullen mit seltsamen Etiketten – in einem Politikerleben häuften sich eine Menge nutzloser Geschenke an.
Hinter dem Schrank lagerten Bilderrahmen. Anna zog sie hervor. Es waren weitere Arbeiten von Daniel, Porträts junger Männer, hell und körperlos schwebend. Einer davon war Costa, Daniels bester Freund. Die anderen Gesichter konnte sie nicht zuordnen, obwohl sie während der Ermittlung zahlreiche Bekannte Daniels vernommen hatte.
Feinde hatte er angeblich keine gehabt. Nur Kumpel, Freunde, Liebhaber – zu viele davon zu haben, war Daniel offenbar zum Verhängnis geworden.
Ihr Vater hatte das Wunderkind gefördert – immerhin war es sein Patenkind gewesen. Ohne es zu dem Zeitpunkt wissen zu können, hatte er mit dem Erwerb dieser Werke sein Geld lukrativ angelegt. Nach Daniel Lohses spektakulärem Tod waren die Preise in die Höhe geklettert.
Mit einem Anflug von Ehrfurcht schob Anna die Bilder zurück an ihren Platz.
Sie kehrte in das Jugendzimmer zurück. Auf dem Bett lag ihre Jacke. Anna holte den Brief aus der Tasche, den Daniels Mutter ihr nach Bosnien geschickt hatte.
Der Umschlag war knittrig, die Marke halb abgefetzt. Die unvollständige Adresse war mehrfach ergänzt und überschrieben – Anmerkungen bosnischer Postämter auf einem siebenwöchigen Irrweg. So lange hatte der Brief gebraucht, um sich endlich im Büro der EU-Polizeimission von Čapljina einzufinden.
Anna strich das Schreiben auf ihrem Knie glatt. Wieder wunderte sie sich über Karins mädchenhafte Schrift. Schlaufen, die sich nach links neigten, exakt auf gleicher Höhe, obwohl das Blatt nicht liniert war. Vermutlich hatte Karin den Brief in Holzbüttgen in den Kasten gesteckt – nur wenige hundert Meter von der Hasselstraße entfernt stand das Reihenhaus der Lohses.
Vor einer guten Woche war Karin Lohse bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen – sie war auf der A 57 mit dem Zweitwagen der Familie ungebremst gegen einen Brückenpfeiler gerast. Letzten Samstag hatte Anna durch ihren Vater davon erfahren. Vielleicht Selbstmord, so seine Spekulation.
Zwei Tage später hatte Bernd Winkler den Herzanfall erlitten. Bei einem Arbeitsessen in einem Düsseldorfer Restaurant war er ohnmächtig geworden und mit dem Gesicht in die Vorspeise gekippt. Der Abgeordnete hatte Glück gehabt. Nur ein leichter Infarkt, der Notarzt war sofort zur Stelle gewesen. Vaters Sekretärin hatte Zuversicht verbreitet, als Anna sie am Handy ausfragte.
Am darauf folgenden Tag hatte sie den Brief erhalten. Beim Kaffeetrinken in der Polizeistation hatte der Leiter der EU-Mission, ein Kette rauchender Franzose mit Bauchansatz und schiefen Zähnen, fröhlich damit gewedelt. »A love letter for Anna-Luna!«
Karins Zeilen – der dritte Schock aus der Heimat innerhalb weniger Tage.
Sie schrieb, dass sie einen Bekannten Daniels getroffen habe, der überzeugt sei, dass die Polizei den Falschen als Mörder ihres Sohns ermittelt hätte.
Dabei war der Täter vor mehr als einem Jahr vom Landgericht Düsseldorf zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Clemens Odenthal, ein arbeitsloser Modezeichner mit verkorkster Kindheit und langer Karriere als Psychiatriepatient, der sich für einen Künstler hielt und Daniel als eine Art Vorbild verehrt hatte.
Odenthal saß seit sechzehn Monaten als Patient der Psychiatrie in einer geschlossenen Station der Landesklinik Langenfeld – weggesperrt für immer, wie Anna inständig hoffte.
Karin teilte weiterhin mit, im Zeugenstand gelogen zu haben. Ihr Sohn habe von einem Kerl berichtet, der ihn bedroht habe. Doch er habe keinen Namen genannt. Auf Drängen ihres Mannes habe sie Odenthal im Prozess belastet, weil sie und Michael von der Schuld des Modezeichners überzeugt gewesen waren.
Es spielt keine Rolle, überlegte Anna. Das Urteil beruhte nicht allein auf Karins Aussage. Es hatte eine Reihe von Indizien gegeben und ein Geständnis des Täters. Dass Odenthal es widerrufen hatte, war reine Verteidigungsstrategie gewesen.
Und schließlich hatte sein Mitbewohner das ursprüngliche Alibi vor Gericht zurückgenommen.
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