617 Grad Celsius
sie nicht in Ruhe, wenn sie sich unbedingt totsaufen will?«
»Anna, du sprichst über deine Mutter!« Plötzlich knurrte er: »Warum musstest du dich eigentlich für diese verdammte EU-Geschichte melden?«
»Neugier«, antwortete sie, fast ebenso barsch wie vorhin im Auto.
Nachdem sie aufgelegt hatte, betrachtete sie die restlichen Aufnahmen. Vater war im Lauf der Jahre fülliger geworden, das Haar ergraut. Aber an der Kraft seiner Ausstrahlung hatte sich nichts geändert.
Ein Bild kam Anna neu vor: Braunkohletagebau, ein Grüppchen von Anzugträgern stapfte durch eine schlammige Grube. Ein riesiger Bagger im Hintergrund. Annas Vater hielt sich an der Seite seines Schwagers, des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, der ihn einst in die Politik gebracht hatte.
Sie erinnerte sich an den Kollegen, der auf der Fahrt hierher gefragt hatte: Wie ist Uwe Strom eigentlich so als Privatmensch?
Auf dem Foto wirkte der Landesvater verschmitzt und nachdenklich zugleich – vielleicht lag es auch nur am Sonnenlicht, das ihn die Augen zusammenkneifen ließ. Der Wind zauste sein Haar, die Krawatte wehte über die Schulter.
Sie kannte ihn kaum. Nach der Trennung ihrer Eltern waren Familientreffen selten geworden. Anna konnte nicht einmal sagen, worauf Stroms Wirkung auf die Leute beruhte – auch wenn seine Partei in den Umfragen an Boden verlor, galt der Ministerpräsident noch immer als beliebtester Politiker des Landes. Der Garant des bevorstehenden Wahlsiegs.
Vielleicht war es der verbindliche Ton, den ihr Onkel so gut beherrschte. Als liege ihm jeder einzelne Bürger am Herzen.
Aber sie hasste es, ständig auf Uwe Strom angesprochen zu werden. Als sei es ihre herausragendste Eigenschaft, die Nichte des Ministerpräsidenten zu sein.
3.
Der Abspann lief über die Mattscheibe. Anna schaltete den Fernseher aus. Der Marathon Mann von 1976 – der Film war ein Jahr älter als sie selbst. Eine verstörende Geschichte, so ungewohnt im Vergleich zu dem, was heute in den Kinos lief.
Alles kam ihr plötzlich fremd vor. Das Haus, die Stadt, das eigene Leben. Anna fürchtete, dass ihr Vater nach der Rückkehr aus der Klinik ein anderer sein würde, nicht mehr der Fels, der ihr Rückhalt gab, wann immer sie ihn brauchte.
Sie trank den Rest aus dem Rotweinglas und wählte die Nummer von Lutz, die sie noch immer auswendig kannte. Fast fünf Jahre war Anna mit ihm zusammen gewesen. Sie musste reden und es fiel ihr niemand sonst ein.
»Weißt du, wie spät es ist?«, fragte Lutz.
»Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe.«
»Seit wann bist du zurück?«
Im Hintergrund hörte Anna eine weibliche Stimme, die etwas fragte. »Stör ich?«, wollte Anna wissen.
»Komm uns doch mal besuchen«, antwortete er. »Am Wochenende oder so.«
Er hatte ›uns‹ gesagt.
»Es hat sich viel verändert«, fügte Lutz hinzu.
»Das stimmt.«
»Ich hab geheiratet.«
»Gratuliere.«
Anna zog die Wolldecke enger um die Schultern und schlenderte durch das verwaiste Haus. Als könne sie es auf diese Art in Besitz nehmen und das irritierende Gefühl überwinden, wieder Kind zu sein. Im Kaminzimmer fiel ihr Blick auf das Porträt, das Daniel Lohse gemalt hatte. Auf gleichsam überirdische Weise leuchtete Annas Gesicht von der Leinwand herab. Die Farben zart, die Konturen verwaschen – der typische Stil Daniels, der bereits einige Sammler auf sich aufmerksam gemacht hatte, obwohl er noch an der Akademie studiert hatte. Nur an den Rändern fiel auf, dass das Bild unvollendet war.
Sein letztes Werk.
Daniel, der Sohn von Karin und Michael Lohse, den Freunden ihres Vaters aus alten Zeiten. Anna musste an die Umstände denken, unter denen der Kunststudent aus dem Leben gerissen worden war, den sie schon als Baby gekannt hatte.
Zwei Jahre, drei Monate und ein paar Tage war es her.
Anna war damals zur Mordbereitschaft eingeteilt und deshalb als eine der ersten Beamtinnen am Tatort gewesen. Schon bei der ersten Inaugenscheinnahme hatte sie vermutet, dass Daniels Mörder extrem psychisch gestört sein musste, erfüllt von grenzenlosem Hass.
Dass das KK 11, dem Anna angehörte, den Täter schon nach wenigen Tagen gefasst und ihm noch vor Ablauf einer Woche ein Geständnis abgerungen hatte, war für sie eine große Genugtuung gewesen.
Bis dahin hatte sie den Job als Mordermittlerin mit der inneren Distanz versehen, die als Grundlage professionellen Arbeitens galt. Die Tat war ein ›Fall‹, der Tote ein ›Spurenträger‹ – den Wahnsinn
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