617 Grad Celsius
ledernen Schreibunterlage häuften sich Dankesschreiben gemeinnütziger Gesellschaften, die ihr Vater regelmäßig unterstützte, sowie Spendenquittungen von Vereinen, in denen er Mitglied oder Aufsichtsrat war. Die Leute liebten ihn für sein Engagement. Vielleicht nutzten sie seine Großzügigkeit auch nur aus.
Halb verdeckt eine aufgeschlagene Zeitung. Anna war überrascht: Von einer geplanten neuen Zeche im nördlichen Ruhrgebiet war da die Rede, die angeblich rentabel sein würde, weil die Preise für Kokskohle in die Höhe geklettert waren. Ein Foto zeigte fünf Männer in Schutzkleidung, Helme mit Lampen, Gewerkschaftstransparente. Parteikumpel vor Ort.
Anna überflog den Text:
Der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering (links) hat die von der Deutschen Bergbau AG angestoßene Debatte über die Bedeutung der heimischen Kohle und den Bau einer neuen Zeche begrüßt. Er wollte sich beim Besuch einer Anlage im westfälischen Haltern aber noch nicht auf eine finanzielle Beteiligung des Staates festlegen.
Zwei Begleiter zählte die Zeitung mit Namen auf, den Chef des Kohlekonzerns und den Boss der Bergbaugewerkschaft. Annas Vater wurde nicht erwähnt.
Über dem Empire-Sekretär hing die Wand voller Familienfotos. Drei Jahrzehnte waren dokumentiert: ein junges Paar und ihr freches Balg. Freunde und Verwandte. Auf neueren Bildern fehlte die Mutter.
Anna nahm eine Aufnahme von der Wand, die aus den Siebzigerjahren stammte. Zwei groß gewachsene Burschen mit breiten Koteletten lümmelten sich auf einem Sofa. Der gut aussehende Kerl links war ihr Vater, damals noch Polizeibeamter im Schutzbereich eins.
Sie griff zum Telefon, tippte die Nummer der Reha-Klinik in die Tasten und ließ sich verbinden.
Während sie wartete, studierte sie das Bild noch einmal. Bernd Winkler wies stolz auf seine Schulterklappe: silberne Litze und dicker Stern, das damalige Zeichen für den Dienstrang des Polizeikommissars. Neben ihm posierte Michael Lohse, sein Partner in jenen Jahren.
Die Musik der Warteschleife erstarb, ein Klicken in der Leitung, dann endlich die Stimme ihres Vaters. Er klang frischer als in den letzten Tagen – vom Balkan aus hatte sie mit dem Handy Kontakt gehalten.
»Was macht dein Herz?«, fragte sie.
»Es ist völliger Unsinn, dass du wegen mir deinen Auslandseinsatz abbrichst!«
»Reg dich nicht auf. Wann kommst du nach Hause?«
»Sie wollen mich nur noch übers Wochenende hier behalten.«
»So schnell? Gibt es zu wenig Klinikbetten?«
»Seit der Operation habe ich nur noch ein mentales Problem, sagen die Ärzte. Sie zwingen mich aufs Fahrrad. Ich soll Sport treiben.«
»Wir könnten demnächst gemeinsam joggen.«
»Dazu werd ich keine Zeit haben. Es ist zu viel Arbeit liegen geblieben.«
»Du musst dich schonen, Papa!«
Er widersprach und zählte auf: Ausschüsse, Parteigremien, Auftritte vor der Wahl – als hänge alles an seiner Person. Dass die Genossen in der Landeshauptstadt ihn im letzten Jahr beinahe als OB-Kandidaten aufgestellt hatten, war Anna neu. Wenigstens das hatte er abgelehnt. Als ihr Vater seinen Kampf um höhere Steinkohlesubventionen erwähnte, wusste Anna, dass sie ihn nicht umstimmen konnte, zumindest nicht am Telefon. Bernd Winkler galt als graue Eminenz der parteiübergreifenden Kohlefraktion im Landtag.
Er sagte: »Sven Arnold arbeitet übrigens wieder für mich. Er wird mich fahren und auch sonst eine große Hilfe sein in der Schlussphase des Wahlkampfs.«
Der schöne Sven, dachte Anna. Sie fragte: »Wo steckt eigentlich Picasso?«
»Die Putzfrau sorgt für ihn. Ihre Töchter sind vernarrt in die freche Töle.«
»Ich auch«, erklärte Anna.
»Eifersüchtig? Morgen hast du deinen Hund wieder.«
Sie hängte das Foto zurück. »Ich hab mir gerade die alten Bilder angeschaut. Du und Michael in den Siebzigern. Hattet ihr einen Partykeller in der Wache?«
»Sozialraum, so hieß das. Da war die Altstadtwache noch in der Mühlenstraße. Es hat sich viel geändert.«
Ja, dachte Anna. Früher machten sich die Eltern Sorgen um die Kinder. Jetzt war es umgekehrt.
Die Stimme am anderen Ende der Leitung riss sie aus den Gedanken. »Du fragst gar nicht nach deiner Mutter.«
»Und?«
»Johanna hat die Abstinenzentscheidung getroffen und sich in Therapie begeben.«
»Zum wievielten Mal?«
»Ihr Allgemeinzustand war wirklich kritisch und ich glaube, sie hat jetzt eingesehen, dass es so nicht weitergehen kann. Ich telefoniere fast täglich mit dem Chefarzt.«
»Warum lasst ihr
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