62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
auch nicht anders zusammengesetzt als die freie Menschheit. Es gibt hier wie dort gute und schlechte.“
„Ich weiß das, ich weiß das sehr genau. Ich habe vier Jahre lang die Anstaltsakten in der Hand gehabt und darf wohl behaupten, daß – die Zuchthaushabitues natürlich abgerechnet – es in den Gefängnissen keine kleinere Prozentzahl guter Menschen gibt als in der Freiheit. Ich glaube Ihnen, daß Sie unschuldig sind, weil – lachen Sie nun nicht über mich! – weil ich selbst auch unschuldig bin.“
„Was? Auch Sie?“
„Ja. Ich habe das gar nicht getan, wegen dessen man mich bestrafte!“
„Also auch ein anderer, gerade wie bei mir, der Sie in das Verderben stürzen wollte?“
„Nein. Nicht so. Er handelte unüberlegt. Er war der Sohn meines Vorgesetzten. Meine Vorfahren hatten seinen Ahnen treu gedient; ich nahm das was er tat, auf mich.“
„Herrgott! Und er duldete das?“
„Er war zu entschuldigen. Er hatte mehr zu verlieren, als ich. Doch, genug hiervon! Sind Sie in der Residenz bekannt?“
„Ich bin da geboren.“
„Ich muß gleich einen Herrn besuchen, den ich noch nicht kenne. Vielleicht haben Sie seinen Namen gehört. Er heißt Seidelmann.“
„Seidelmann? Doch nicht etwa der fromme Schuster?“
„Ob er Schuhmacher ist, das weiß ich nicht. Ich kenne nur den Namen und weiß, daß er sehr gottesfürchtig sein soll.“
„Dann ist's kein anderer als der Schuster.“
„Sie kennen ihn also?“
„Oh, sehr genau! Ich habe in einem Haus gearbeitet, in welchem er fast täglich verkehrte.“
„Was für ein Mann ist er?“
„Ein schlimmer Kerl, ein Wolf in Schafskleidern, eine Hyäne, welche sich für ein Lamm ausgibt.“
„Gott, wenn das wahr wäre!“
„Es ist wahr. Unsere Werkstelle lag in einem Parterre der Uferstraße. Über uns gab es ein Etablissement mit feilen Mädchen, und noch eine Treppe höher wohnte eine Madame Groh, welche mit Dirnen handelt, sich aber außerdem eines sehr ehrbaren Wandels befleißigt. Bei ihr verkehrt Seidelmann. Wir wußten ganz genau, daß er dieser Madame Groh unschuldige Mädchen zuführt, um die es dann geschehen ist.“
„Herrgott! Meine Tochter dient bei ihm!“
„O weh! Nehmen Sie Ihr Kind sofort weg von ihm!“
„Sogleich, sogleich! Wenn doch nur der Zug käme! Ah, da gibt's das erste Zeichen! Lösen wir die Fahrbillets!“
Es war über Petermann eine unbeschreibliche Unruhe, ja geradezu eine Angst gekommen. Er sprang in den Waggon, als könne er dadurch die Schnelligkeit des Zuges vergrößern, und zeigte sich auch unterwegs so zerstreut, daß es Heilmann nicht mehr gelang, ein dauerndes Gespräch mit ihm anzuknüpfen.
Als der Zug auf dem Bahnhof der Residenz ankam, standen zwei Männer in Zivil auf dem Perron und beobachteten die aussteigenden Passagiere.
„Das muß er sein“, sagte der eine und arbeitete sich durch das Gedränge auf die beiden entlassenen Gefangenen zu.
„Entschuldigung, mein Herr!“ sagte er zu Heilmann. „Darf ich fragen, von welcher Station Sie kommen?“
„Warum?“
„Dies ist meine Legitimation.“
Er griff in die Tasche und zeigte die Polizeimedaille vor. Heilmann nickte traurig mit dem Kopf und antwortete auf die Frage:
„Aus Rollenburg.“
„Sie heißen Heilmann?“
„Ja.“
„Sie sind heute entlassen worden?“
„Ja.“
„Ich muß Sie aufmerksam machen, daß Sie sich sofort anzumelden haben, widrigenfalls man Sie sistieren wird.“
„Wollen Sie da nicht vorziehen, mich gleich mitzunehmen?“
„Nein. Sie haben eine Formalität zu erfüllen. Tun Sie das gleich, so ist's zu Ihrem Besten. Adieu!“
Er ging.
„Sagte ich es Ihnen nicht?“ fragte Heilmann seinen bisherigen Reisegefährten.
„Es läßt sich leider nichts dagegen tun.“
„Nein. Übrigens erfüllen diese Leute einfach ihre Pflicht. Ich bin nicht unverständig genug, ihnen bös zu sein. Aber wie soll das werden, wenn die Polizei drei Jahre lang zu meinen Meistern kommt, um die Aufsicht auszuführen! Nimmt mich ja einer in Arbeit, so schickt er mich doch gleich wieder fort.“
„Sprechen Sie mit dem Polizeidirektor ein aufrichtiges Wort. Er wird Sie wenigstens ruhig anhören. Es liegt ja nicht in seinem Interesse, seine Leute um Ihretwillen unnötigerweise abzuhetzen.“
„Will's versuchen. Also gleich nach dem Polizeigebäude! Jetzt nun wollen wir scheiden. Sie haben ein Vertrauenszeugnis, und meine Gegenwart kann Ihnen nur Schaden bringen. Ich wünsche Ihnen Glück, mein lieber Herr! Kennen wir
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