62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
gewidmet; sie wurde durch diese Briefe entweiht. Ein Schreiben aus dem Zuchthaus war eine Heiligtumsschändung, eine Entweihung meines Sanktuariums; ich durfte es nicht dulden. Ich fragte Ihre Tochter, ob sie dem brieflichen Umgange mit dem Gefallenen und Unrettbaren entsagen wolle. Sie wies mich zurück, und zwar mit einem Zorn, welcher mir bewies, daß mein Same trotz aller Hoffnung doch nur auf steinigen, unfruchtbaren Boden gefallen sei. Ich befahl ihr, mein Haus zu verlassen.“
Petermann holte tief Atem. Es war ihm, als ob ihm eine bangeschwere Last vom Herzen gefallen sei.
„Nicht wahr, Sie wollen mich demütigen, Herr Seidelmann?“ fragte er lächelnd.
„Wohl dem, der sich noch demütigen läßt! Dem Demütigen gibt Gott Gnade; er stäubet aber einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt. Nur aus der Tiefe der Erniedrigung ist die Perle der Erhöhung heraufzuholen.“
„Sie haben sich leider verrechnet. Ihre Worte machen mich glücklich. Sie haben mir die Überzeugung gegeben, daß meine Tochter ihren Vater liebt und achtet und ihre Kindespflicht höher hält als die inhaltslose, heuchlerische Salbaderei, die Sie in Ihrem ‚Heiligtum‘ anzuhören gezwungen war.“
Seidelmann fuhr von seinem Sitz empor.
„Heuchlerisch! Salbaderei!“ rief er aus. „Mann, Sie sind wirklich von einer Legion von Teufeln besessen! Verlassen Sie augenblicklich mein Haus, welches durch Ihre persönliche Anwesenheit weit mehr noch geschändet wird, als durch Ihre Briefe, durch welche Sie dem guten Hirten ein Lämmlein gestohlen haben, das bereits für ihn gewonnen war!“
„Ja, ich werde gehen“, antwortete Petermann lächelnd. „Vorher aber haben Sie vielleicht die Güte, mir zu sagen, wohin meine Tochter von Ihnen gegangen ist.“
„Das weiß ich nicht.“
„Wie? Sie wollen das nicht wissen?“
„Nein. Ich habe ihr das Zeugnis ausgestellt, und dann verließ sie mein Haus. Ich habe nicht gefragt, wohin sie gehen werde. Sie war auf jeden Fall verloren.“
Da nahm Petermann einen anderen Ton an.
„Herr, soll ich etwa annehmen, daß sie nach der Uferstraße gegangen ist?“ fragte er scharf.
Seidelmann warf ihm einen drohenden Blick zu.
„Mensch! Was weiß ich von der Uferstraße?“ sagte er.
„Mehr, als Sie zugeben werden. Ich werde sofort zur Polizei gehen. Dort hat man mein Kind ab- und auch anmelden müssen. Ich werde also erfahren, was ich erfahren will. Befindet sich aber das ‚Schäflein‘ auf der Uferstraße, so ist es nicht hingegangen, sondern es ist hingeführt, hingeschafft, hintransportiert worden. In diesem Fall wehe Ihnen, Sie Schuster im Priesterkleid! Sie Kreuzspinne in der Schmetterlingsmaske, Sie bodenloser Dummkopf mit der Miene eines Gottgeliebten! Der Zuchthäusler wird Sie dahin bringen lassen, woher er heute gekommen ist!“
Seidelmann war so perplex, daß er alle Antwort vergaß; aber als sich die Tür hinter dem forteilenden Petermann geschlossen hatte, entfuhr es dem frommen Mann:
„Kreuzhimmeldonnerwetter! Eigentlich sollte ich diesen frechen Bengel zur Treppe hinabwerfen, daß er das Kreuz, den Hals und sämtliche Rippen brechen müßte! Also, zur Polizei will er? Wie gut, daß er nicht sofort nach der Uferstraße geht! Dadurch gewinne ich Zeit, meine gute Adelheid von dem bevorstehenden Besuch zu benachrichtigen. Sie wird ihn dann empfangen! Aber wie!“
Er kleidete sich schnell zum Ausgehen an. Dabei fuhr er in seinem Selbstgespräch fort:
„Da fällt mir der Baron ein! Er sprach heute früh von Rollenburg, und zwar in einer Weise, welche ganz auffällig war. Er hat überhaupt seit einiger Zeit ein beinahe gehässiges Verfahren gegen mich. Es scheint, daß ich mich vor ihm in acht zunehmen habe. Wenn er etwa glaubt, mir imponieren zu wollen, so beurteilt er mich sehr falsch. Nicht ich habe ihn zu fürchten, sondern er mich. Er mag auf seiner Hut sein!“
Er war nämlich bereits am Morgen dieses Tages im Palais des Barons Franz von Helfenstein gewesen, um mit diesem letzteren eine geschäftliche Angelegenheit zu besprechen. Am Schluß der Unterhaltung, als er bereits im Begriff stand, sich zurückzuziehen, hatte der Baron gesagt:
„Ah, da fällt mir ein: Wie geht es denn jetzt Ihren Mündel, Herr Seidelmann?“
„Welchen Mündel? Sie wissen, daß das Vormundschaftsgericht mich zum Vormund mehrerer Verwaisten ernannt hat.“
„Ich meine natürlich diese kleine, allerliebste Marie Bertram, welche Sie die Güte hatten, für einen Tag an meine Frau zu
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