62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
lassen, was man eigentlich selbst zu tragen hat.“
„Vielleicht sind hier noch Ausnahmen zulässig.“
„Ich kenne keine einzige. Doch, apropos, wie war denn damals eigentlich die Geschichte mit dem Petermann, dem Scharfensteiner Inspektor?“
Der Lieutenant verfärbte sich so jäh, daß es dem Direktor auffiel.
„Du erschrickst ja förmlich!“ sagte er. „Freilich muß es unangenehm sein, solche Beamte vor dem Strafrichter zu wissen. Konnte dein Vater nicht Gnade walten lassen?“
„Er konnte es, tat es aber leider nicht.“
„Ich begreife ihn nicht. War die Summe denn gar so sehr bedeutend?“
„Dreitausend Gulden.“
„Nur? Das ist doch nicht etwa ein Vermögen?“
„O nein! Übrigens wurde vollständig Ersatz geleistet.“
„So begreife ich die Härte des Bruders erst recht nicht. Es mögen da Dinge mitgespielt haben, welche wir vielleicht nicht kennen, lieber Bruno.“
„Höchstwahrscheinlich!“
Es war dem Lieutenant anzusehen, daß dieses Gespräch für ihn ganz und gar kein erquickliches sei, dennoch aber ließ er es nicht fallen, sondern fuhr fort:
„Aber dabei fällt mir ein, daß Petermann zu einer Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Nicht?“
„Freilich.“
„Ich glaube, es waren fünf Jahre.“
„Gerade so viel, ja.“
„Nun, da müßte er sich doch hier bei dir befinden?“
„Er ist allerdings hier, wie ich heute entdeckt habe.“
„Entdeckt? Das klingt ja wunderbar!“
„Es ist auch wunderbar, aber nur für denjenigen, der die Verhältnisse nicht kennt. Ich wußte, daß ein Petermann wegen Unterschlagung auf fünf Jahre die Nummer 306 bekommen habe; aber ich hatte keine Ahnung, daß es dieser euer Petermann sei.“
„Kaum denkbar!“
„Nun, habe ich ihn jemals gesehen?“
„Allerdings wohl nicht.“
„Und sodann hörte ich zwar von der Sache, aber nur vorübergehend. Die Einlieferungsakten enthalten zwar die Angabe des Verbrechens, weiter aber nichts darüber. So kam es, daß ich gar nicht wußte, daß der letzte der Petermänner ein Gefangener sei.“
„Wie lange ist er hier?“
„Heute gerade vier Jahre.“
„Hm, lieber Onkel, könntest du denn da nicht –?“
„Was denn?“
„Hat er noch nicht um Gnade nachgesucht?“
„Nein.“
„Könntest du nicht etwas für ihn tun?“
„Gern. Überhaupt habe ich es bereits getan.“
„Was?“
„Ich habe ihn der Gnade seiner Majestät vorgeschlagen.“
„Gott sei Dank! Denkst du, daß es Erfolg haben wird?“
„Der Erfolg ist bereits da. Er ist begnadigt und wird morgen entlassen.“
Der Lieutenant fuhr von seinem Sitze auf.
„Morgen? Ist's wahr?“ fragte er.
„Ja. Ich habe es ihm vorhin publiziert.“
„Wieviel Uhr wird er entlassen?“
„Um acht Uhr kann er gehen.“
„Hat er dir gesagt wohin?“
„Er geht nach der Residenz.“
„Aber ohne Mittel, ohne feste Stellung in Aussicht.“
„Nun, ich habe ihm hundert Gulden überwiesen; da ist er wenigstens fürs erste sorgenfrei. Findet er keine Stellung, so sorge ich auch weiter.“
Da streckte der Neffe dem Onkel die Hand entgegen und sagte im wärmsten Ton:
„Habe Dank! Das hast du brav gemacht! Er ist wohl nicht so schuldig wie es den Anschein hat.“
„Wieso?“
„Er hat lange Jahre die Kasse gehabt, ohne daß sie einmal revidiert worden wäre. Er war überzeugt, das, was er ihr entlehnte, in einigen Tagen wieder hineinlegen zu können. Er wollte keineswegs betrügen, sondern nur für ganz kurze Zeit eine Anleihe machen. Er hat ja auch wirklich alles auf Heller und Pfennig ersetzt.“
„Wenn das so ist, so ist der Bruder geradezu unverantwortlich grausam gewesen.“
„Leider! Wie hat sich Petermann als Gefangener benommen?“
„Ausgezeichnet. Ich gebe ihm ein Vertrauenszeugnis mit, und ich sage dir, daß ich dies nur sehr ausnahmsweise tue. Leider komme ich seit langem mit dem Bruder nicht mehr zusammen; aber bist du bei ihm, so fasse ihn doch einmal an. Er muß sich des Petermann annehmen!“
Der Lieutenant zuckte die Achseln.
„Ich darf mit ihm von dieser Angelegenheit gar nicht sprechen, werde aber doch noch einen Versuch machen.“
Damit war die Angelegenheit für heute erledigt; aber als am Morgen Petermann entlassen wurde und sich nach dem eine Strecke vor der Stadt gelegenen Bahnhof begab, hörte er eilige Schritte hinter sich. Sich umdrehend, gewahrte er den Lieutenant Bruno von Scharfenberg, welcher heute Zivilkleidung trug.
Das Gesicht des entlassenen Gefangenen nahm schnell einen harten,
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