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62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

Titel: 62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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uns nicht mehr, wenn wir uns treffen. Aber einander Gutes gönnen, das können wir doch.“
    „Auch ich wünsche Ihnen mit aufrichtigem Herzen, daß Ihr Weg nicht so steinig bleibe, wie er begonnen hat. Werfen Sie alles Leid hinter sich, und gehen Sie der Zukunft getrost und zuversichtlich entgegen.“
    Sie trennten sich mit einem Handschlag. Petermann suchte zunächst die Wohnung Seidelmanns auf. Er kannte die Nummer aus den Briefen, welche er von seiner Tochter empfangen hatte.
    Es wurde ihm nach längerem Klingeln von einem Frauenzimmer geöffnet.
    „Was wollen Sie?“ frage dasselbe.
    „Ist Herr Seidelmann zu Hause?“
    „Ja; aber zu sprechen ist er nicht. Er ist beschäftigt.“
    „Meine Angelegenheit ist nicht aufzuschieben, sondern im Gegenteil sehr dringend.“
    „Was betrifft es denn?“
    „Familiensachen.“
    „Familiensachen? Hm! Da will ich doch einmal den Versuch machen. Welchen Namen soll ich nennen?“
    „Ich heiße Petermann.“
    „Petermann?“
    Sie warf einen eigentümlich taxierenden Blick auf ihn, der geradezu beleidigend war, lächelte impertinent und sagte:
    „Na, ich habe es Ihnen einmal versprochen. Ich will es versuchen. Warten Sie ein bißchen!“
    Sie ging und kehrte erst nach längerer Zeit zurück.
    „Sie dürfen kommen!“
    Bei diesen Worten winkte sie ihm, ihr zu folgen. Sie öffnete einige Türen und rief bei der letzten hinein:
    „Das ist der Mann!“
    Petermann trat ein und zog die Tür hinter sich zu. Er sah sich dem frommen Schuster gegenüber. Dieser saß auf einem Polstersessel am Tisch und hatte ein Buch vor sich liegen, dessen Titelblatt aufgeschlagen war. Darauf stand:
    ‚Über die gottseligen Freuden, welche das heilige Werk der inneren Mission den frommen Gläubigen bereitet. Geschrieben von dem ehrwürdigen Herrn Augustus Seidelmann, Vorsteher der Gesellschaft der Brüder und Schwestern der Seligkeit. Eigentum des Verfassers.‘
    Dieser ehrwürdige Herr Augustus Seidelmann dankte mit kurzem, abgemessenem Kopfnicken auf den höflichen Gruß Petermanns und sagte:
    „Bringen Sie Ihr Anliegen in möglichster Kürze vor! Ich habe nicht Zeit zu Weitschweifigkeiten.“
    „Ich beabsichtige keine Weitschweifigkeiten, Herr Seidelmann, und kann glücklicherweise sehr kurz sein. Meine Tochter ist in Stellung bei Ihnen gewesen?“
    „Das weiß ich nicht.“
    „Wie? Das wissen Sie nicht?“
    „Nein.“
    „Aber Sie müssen doch wissen, wen Sie in dienender Stellung bei sich gehabt haben, Herr Seidelmann?“
    „Allerdings. Aber ob Sie der Petermann sind, dessen Tochter bei mir war, das kann ich nicht wissen.“
    „Nun, meine Tochter diente bei einem Herrn August Seidelmann, Straße und Hausnummer ganz wie die Ihrige.“
    „Dann ist's ja richtig!“
    „Schön! Meine Tochter scheint nicht mehr bei Ihnen zu sein?“
    „Nein.“
    „Wann ging sie ab?“
    „Vor ungefähr zwei Monaten.“
    „Waren Sie unzufrieden mit ihr?“
    „Nein.“
    Der fromme Schuster hatte eine Art kampfbereiter Miene angenommen. Er ahnte einen Streit.
    „So ist sie es gewesen, welche gekündigt hat?“
    „Nein. Ich kündigte ihr.“
    „Und dennoch waren Sie zufrieden mit ihr? Darf ich nach dem Grund der Kündigung fragen?“
    „Den kennen Sie jedenfalls bereits.“
    „Ich habe keine Ahnung.“
    „Nicht? Nun, ich nahm das Mädchen zu mir, weil ich die Familienverhältnisse desselben nicht kannte. Ich hielt sie für die Tochter eines ehrbaren Mannes und –“
    „Hoffentlich bin ich das auch!“ fiel Petermann ein.
    Der Schuster machte eine stolze, abwehrende Handbewegung und fuhr in erhobenem Ton fort:
    „Bald aber erfuhr ich das Gegenteil.“
    „Ah! Was denn wohl?“
    „Der Vater war wegen Unterschlagung eingezogen und bestraft worden. Dennoch hätte ich das Mädchen behalten. Es wäre mir eine Genugtuung gewesen, aus der Tochter des Verbrechers ein Gott wohlgefälliges Geschöpf zu machen und da der Vater dem Satan verfallen war, wenigstens sie für den Herrn zu gewinnen. Das Werk hatte auch infolge meines Eifers und meiner Gebete einen guten Fortgang, da aber streute der Teufel sein Unkraut unter den Weizen, und das durfte ich nicht gestatten.“
    Petermann hätte diesem Menschen am liebsten die Faust ins Gesicht schlagen mögen, doch beherrschte er sich. Er hielt es für geratener, einen Zusammenprall zu vermeiden. Darum fragte er scheinbar ruhig:
    „Welches Unkraut meinen Sie?“
    „Die Briefe. Sie kamen aus dem Zuchthaus. Meine Wohnung ist ein Tempel, dem Heiligen Geist

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