62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
vermieten.“
„Oh, der geht es sehr gut, Herr Baron.“
„Das freut mich. Wo befindet sie sich denn jetzt?“
„Ich weiß das augenblicklich noch nicht.“
„Wie? Sie als Vormund wissen es nicht?“
„Nein. Aber, wenn Sie sich noch für das Mädchen interessieren, so werde ich es erfahren.“
„Das klingt ja wunderbar! Ihr Mündel darf doch ohne Ihre Einwilligung ihren Aufenthalt nicht ändern!“
„Sie hat es aber doch getan. Ein Vormund ist zu bedauern. Man hat nichts als Mühe, Zeitverlust und Verantwortlichkeit. Anerkennung und Dank aber findet man selten.“
„Wo hatten Sie die Bertram untergebracht, nachdem sie von meiner Frau fortging?“
„Bei einer Freundin von mir, wo sie sich in sehr guten Händen befand.“
„War es nicht auf der Ufergasse?“
„Ja.“
„Bei der Rentiere Madame Groh?“
„Sie haben sich den Namen ganz richtig gemerkt.“
„Diese Dame ist die Vorsteherin der Schwestern der Seligkeit. Marie Bertram war also ausgezeichnet aufgehoben. Aus Ihren Worten aber muß ich schließen, daß sie sich nicht mehr dort befindet.“
„Sie ist fort.“
„Und wohin, das wissen Sie nicht?“
„Nein. Ich werde fragen.“
„Darf denn die Vorsteherin der Seligkeitsschwestern Ihre Mündel ohne Ihre Einwilligung von sich lassen?“
„Eigentlich hat sie mich zu fragen; da ich ihr aber mein vollstes Vertrauen schenken darf, so habe ich ihr Vollmacht erteilt, nach ihrem Ermessen zu handeln, es mir aber dann zu melden. Wie gesagt, ich werde mich erkundigen.“
Auf dem Gesicht des Barons zeigte sich ein feines, überlegenes Lächeln. Er sagte:
„Vielleicht ist diese Erkundigung überflüssig. Die Bertram soll sich nämlich gegenwärtig in Rollenburg befinden.“
Seidelmann horchte auf.
„In Rollenburg?“ fragte er, den Erstaunten spielend.
„Ja.“
„Wie kommt man zu dieser Idee?“
„Man hat sie einsteigen sehen.“
„Hier? Auf dem Bahnhof?“
„Nein, sondern auf der nächsten Station. Diese kleine Person scheint doch einigermaßen raffiniert zu sein. Sie hat nicht merken lassen wollen, wohin sie will.“
„Wer hat sie denn einsteigen sehen?“
„Einer meiner Bekannten, den ich gestern abend sprach.“
„Hm! Er muß sich geirrt haben!“
„Er kennt sie sehr genau.“
„Ist sie denn allein gewesen?“
„Nein. Sie selbst sollen sie begleitet haben.“
„Ich? Was fällt diesem Mann ein?“
„Nun, er sagte, daß er auch Sie sehr genau kenne.“
„Er hat sich dennoch geirrt!“
„Möglich. Es muß eine Person geben, welche Ihnen sehr ähnlich ist. Nehmen Sie sich in acht, sonst könnte das, was dieser Doppelgänger tut, sehr leicht auf Ihr Konto kommen!“
An diese Unterredung mußte der fromme Schuster jetzt denken, während er sich zu seiner ebenso frommen Freundin begab, bei welcher er sofort vorgelassen wurde.
„Du kommst zu ganz ungewöhnlicher Zeit, lieber August“, sagte sie. „Ist's eine geschäftliche Angelegenheit?“
„Ja. Erlaube, daß ich mich setze.“
Er nahm neben ihr auf dem Sofa Platz und fuhr dann fort:
„Erinnerst du dich noch dieser Valesca Petermann, welche ich dir brachte?“
„Sehr gut. Sie war ein reizendes Mädchen.“
„Aber im höchsten Grade obstinat!“
„Freilich! Sie hat uns Mühe gemacht. Deshalb verkauften wir sie nach Rollenburg. Wieviel bekamen wir damals für sie?“
„Dreihundert Gulden.“
„Ja, ja; ich besinne mich. Du hattest die Güte, ziemlich ungleich mit mir zu teilen. Du nahmst zwei Drittel, und ich erhielt nur einhundert Gulden.“
„Wie recht und billig. Ich hatte die Not mit ihr gehabt.“
„Was aber ist mit ihr?“
„Es scheint, daß wir noch mehr Not mit ihr haben werden.“
„Wieso?“
„Ihr Vater war soeben bei mir.“
„Der Zuchthäusler?“
„Ja.“
„Wie kommt denn der dazu, dich aufzusuchen? Was wollte er denn?“
„Seine Tochter.“
„Alberner Mensch!“
„Oh, er wurde höchst ungemütlich. Ich sollte partout sagen, wo sie sich befindet. Er sprach dabei auch von dir.“
„Von mir? Er kann mich doch gar nicht kennen!“
„Man muß aber doch mit ihm von dir gesprochen haben, und zwar nicht in wünschenswerter Weise!“
„Woraus schließt du das?“
„Aus seinen Ausdrücken. Er sprach sehr unehrerbietig von dir. Ich sagte ihm nicht, daß ich das Mädchen zu dir gebracht habe, und da meinte er, daß er sich danach erkundigen werde.“
„Das klingt ja wie eine Drohung.“
„Allerdings. Er will zunächst nach der Polizei, um zu erfahren, wo sie
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