62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
das einzige, was du sagen kannst.“
„Es wird aber doch nichts helfen.“
Die beiden fuhren erschrocken auseinander. Petermann hatte diese letzten Worte gesprochen. Er hatte ganz leise und vorsichtig die Tür geöffnet und den letzten Teil der Unterredung gehört.
„Ja“, wiederholte er, „es wird doch nichts helfen; denn ich weiß nun, was ich wissen will. Also droben bei dieser Groh hat meine Tochter in Dienst gestanden, hier unten aber hat sie beschäftigt werden sollen. Wie es scheint, hat man sie mit Gewalt zum Gehorsam zwingen wollen. Ich werde sie aufsuchen; sie wird mir zu erzählen haben. Wehe euch, wenn ich das Geringste höre, was mir Veranlassung zu einer Anzeige gibt! Drin auf dem Tisch liegt das Geld für den Wein! Trinkt dieses Sündenwasser selber aus!“
Er ging und ließ die beiden bestürzt zurück. Im Verlauf von wenigen Minuten erfuhren Seidelmann und seine Freundin, daß alles verraten sei. Jetzt erschraken sie.
„Was ist zu tun?“ fragte die Vorsteherin der Schwestern der Seligkeit. „Er wird womöglich direkt zur Polizei gehen!“
„Nein. Das kann ihm nichts helfen. Er wird zunächst mit seiner Tochter sprechen wollen.“
„Also nach Rollenburg fahren? Lieber August, man muß ihm zuvorzukommen suchen.“
„Das ist freilich das beste. Wo steckt denn das Mädchen in Rollenburg? Ich habe es mir nicht gemerkt.“
„Bei der Melitta.“
„Ah, bei der auch die Bertram ist. Das ist dumm!“
„Du mußt schleunigst hin!“
„Paßt mir aber schlecht.“
„Es ist ganz notwendig. Wann geht der Zug?“
„Heute nur noch einer. Ich treffe also unbedingt mit diesem Menschen zusammen, und dann ahnt er natürlich, was ich will.“
„Geht das nicht zu vermeiden?“
„Kaum. Der Zug geht um fünf Uhr von hier ab und – ah, sapperment! Da fällt mir etwas ein. Das ist ein Ausweg, obgleich es ein Umweg ist.“
„Was?“
„Ich fahre nicht die direkte Tour, bei der ich noch bis fünf Uhr warten muß, sondern ich benutze den Umweg über die Kreisstadt. Da reise ich in bereits einer Stunde ab und komme aus anderer Richtung, aber viel früher als Petermann nach Rollenburg.“
„Tue das! Beeile dich! Es ist Gefahr im Verzug!“
„Darum will ich sofort gehen, liebe Adelheid. Du mußt schon entschuldigen, daß jetzt der Abschied kurz sein wird!“
„Schon gut! Beeile dich.“
Er ging, fuhr mit einer Droschke nach Hause, und dann mit derselben nach dem Bahnhof, wo er gerade noch zur rechten Zeit kam, sich ein Billet zu lösen und in den Wagen zu steigen.
Seine Berechnung war ganz richtig, war aber leider ohne den Zufall gemacht worden. Sein Zug erlitt eine Verspätung von einer Viertelstunde, und dadurch wurde der Anschluß nach Rollenburg versäumt. Zu seinem Ärger erfuhr nun Seidelmann, daß er später als Petermann in Rollenburg eintreffen werde.
FÜNFTES KAPITEL
Demütigungen
Als der Buchbinder Heilmann sich auf dem Bahnhof von Petermann getrennt hatte, ging er nach der Polizei, um sich dort pflichtschuldigst anzumelden. Die Eintragung des Namens wurde im Anmeldebüro vorgenommen; damit aber war er noch nicht am Ende. Er wurde nämlich dann vor den Polizeikommissar geführt, welcher ihn mit scharfen Blicken betrachtete und dann die Frage aussprach:
„Sie wissen, daß Sie unter Polizeiaufsicht stehen werden?“
„Leider.“
„Es gibt mehrere Klassen dieser Aufsicht. Sie befinden sich in der dritten, letzten Klasse.“
„Die strengste?“
„Ja. Wissen Sie, was das zu bedeuten hat?“
„Nein. Ich habe mich noch nie unter Polizeiaufsicht befunden. Vielleicht haben Sie die Güte, es mir zu sagen!“
Er sprach ruhig und in höflichem Ton. Der Kommissar betrachtete ihn abermals, schüttelte leise den Kopf und sagte dann:
„Ich habe Sie ja zu diesem Zweck kommen lassen. Sie sehen mir gar nicht wie ein gemeingefährlicher Mensch aus. Aber Sie können sich während Ihrer Gefangenschaft unmöglich zur Zufriedenheit Ihrer Vorgesetzten geführt haben, denn Sie haben wiederholt Disziplinarstrafen erlitten.“
„Leider muß ich das zugeben.“
„Daher diese strenge Polizeiaufsicht. Diese besteht in Folgendem: Sie dürfen kein Schanklokal besuchen –“
„Das verbieten mir bereits meine Verhältnisse: Ich habe nicht das Geld dazu!“
„Ferner dürfen Sie die Stadt nicht verlassen, ohne mich, der ich mit der Aufsicht betraut bin, um Erlaubnis gefragt zu haben.“
„So bin ich also Gefangener? Zwar nicht in der Zelle, aber doch im Bereich der Stadt?“
„So
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